Das Jahr 2015 ist das Jahr der Jubiläen. 700 Jahre seit Morgarten, 500 Jahre seit Marignano, 200 Jahre seit dem Wiener Kongress. Ein grosses Paket von historischen Ereignissen. In den Medien ist eine heftige Diskussion entbrannt. Vielerorts ist es Mode geworden, sich mit Geschichte zu befassen und über Geschichte zu streiten. Die Wissenschaft weist auf jene Wirklichkeit hin, die sie aus den Quellen beweisen kann. Journalisten und Politiker basieren lieber auf Mythen. Der Arbeit der Forscher wird einer Entmystifizierung der Mythen, derer Heldentaten der Schweizer Geschichte vorgeworfen.
Wilhelm Tell, Winkelried, der Rütlischwur, das Löwendenkmal, alles wird entweder infrage gestellt oder glorifiziert. Für uns Bürger ist die geschichtliche Wahrheit zu theoretisch. Das Wirkliche der Geschichte ist uns in seiner Ganzheit zu abstrakt, um nicht zu sagen unbekannt. Unser Geschichtswissen ist durch die Mythen, diese lieb gewordenen Erzählungen, in unserer Erinnerung verankert. Die wissenschaftliche Wahrheit ist wichtig. Sie eignet sich aber schlecht, uns ein plastisches Geschichtsbild zu vermitteln. Auch wenn Tell und Winkelried nicht konkret gelebt haben, sind es Meilensteine im Geschichtsverständnis des Volkes. Das Publikum braucht Mythen. Es braucht beides: genaue Forschung und Legenden für das Volk.
Die Frage „Was ist richtig, was ist falsch?“ ist die falsche Frage. Auch die biblische Geschichte ist weder richtig noch falsch. In der Geschichte geht es um die Geschichten. Sie erzählen, wie es hätte sein können. So wird die Schweizer Geschichte für die Gemeinschaft zusammengehalten.
Betrachten wir einmal ein paar Meilensteine, welche die Schweiz von heute ausmachen.
Es ist uns gelungen, seit dem Sonderbundskrieg (1847) in keinem kriegerischen Konflikt mehr beteiligt zu sein. 168 Jahre Friede! In diesen 168 Jahren haben wir uns vorsichtig, Schritt für Schritt von einem Entwicklungsland zu einem Wohlfahrtsstaat entwickelt. Und das in einem Land ohne Bodenschätze und ohne eigne Rohstoffe. Überboten werden wir nur noch durch das erdölreiche Kuwait.
Wo gibt es eine andere Nation, in dem das Volk wirklich der Souverän ist? Zugegeben, wir haben über 160 Jahren daran gefeilt, bis wir das komplizierte Uhrwerk der direkten Demokratie zum Laufen gebracht haben. Es gelingt uns sogar, einen Sack voll Flöhen von 26 Kantonen mit unterschiedlichen Religionen, Sprachen, geschichtliche Hintergründe und sehr spezielle Kulturen zu regieren.
Warum?
Wie alle Menschen sind auch die Schweizer unvollkommen, mit Fehler behaftet und streitsüchtig. Trotzdem funktioniert die Schweiz. Sie wird weltweit für ihre Regierungskultur beneidet.
Nochmals: Warum funktioniert die Schweiz? Weil uns die Mythen, die Siegen und Niederlagen unserer Helden, in der Vergangenheit eine Erinnerungskultur beschert haben, welche das ideale Fundament unseres Staatsverständnises darstellt.
Natürlich wir brauchen eine seriöse Geschichtswissenschaft. Ohne Mythen indes kommen ihre Ergebnisse beim Volk nicht an. Die Mythen sind das Marketinginstrument für den Wissenstransfer zu uns Laien zum Volk. Wilhelm Tell hat nie gelebt. Aber die Apfelschussszene hätte sich so zutragen können. Damit wird doch ausgesagt, wie eine böse Macht einen guten Mann zwingt, auf seinen Sohn zu schiessen. In den Mythen wohnt eine innere Wahrheit. Sie sagt ganz deutlich: „Wir sind unterjocht, solche Macht gehört vernichtet.“
Es braucht neben der Wissenschaft leicht verständliche Symbole. Sie liefern den Kitt, welche die Gemeinschaft zusammenhält.
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Zitat „Es gelingt uns sogar, einen Sack voll Flöhen von 26 Kantonen mit unterschiedlichen Religionen, Sprachen, geschichtliche Hintergründe und sehr spezielle Kulturen zu regieren.“
Vielleicht würde die Schweiz nicht mehr existieren, wenn alle welschen Kantone katholisch und alle deutschsprachigen Kantone reformiert gewesen wären…