Seit meiner Zeit als Student an der ETH bin ich Mitglied der Museumsgesellschaft. Kürzlich fand ich dort eine Neuauflage von Stefan Zweig. „Sternstunden der Menschheit“, jene zwölf Miniaturen von epochemachenden Ereignissen, welche seit der Entdeckung der Neuen Welt unser Leben tief geprägt haben. Er beschreibt darin den neuen Rhythmus.
Während all der Tausende und vielleicht Hunderttausende von Jahren, seit der Mensch die Erde beschreitet, hatte kein anderes Höchstmass irdischer Fortbewegung gegolten als der Lauf des Pferdes, das rollende Rad, das geruderte oder segelnde Schiff. Keine merkbare Beschleunigung hatte sich im Rhythmus der Bewegung gezeitigt.
Die Armeen Wallensteins kamen kaum rascher vorwärts als die Legionen Cäsars. Die Armeen Napoleons brachen nicht rapider vor als die Horden Dschingis Khans. Die Korvetten Nelsons durchquerten das Meer nur um weniges rascher als die Raubboote der Wikinger oder die Handelsschiffe der Phönizier. Goethe reist im achtzehnten Jahrhundert nicht wesentlich bequemer oder geschwinder als der Apostel Paulus zu Anfang des Jahrtausends.
Erst das neunzehnte Jahrhundert verändert fundamental Mass und Rhythmus der irdischen Geschwindigkeit. Die industrielle Revolution nimmt seinen Anlauf. In seinem ersten und zweiten Jahrzehnt rücken die Völker, die Länder rascher aneinander als vordem in Jahrtausenden. Durch die Eisenbahn, durch das Dampfschiff werden Tagesreisen in Viertelstunden und Minuten bewältigt. Diese Vehikel verfünffachen, verzehnfachen, verzwanzigfachten die bisher bekannten Geschwindigkeiten. Der Mensch konnte diese technische Wunder immer noch mit seinen Sinnen erfassen und erleben.
Völlig unvermutet aber in ihren Auswirkungen erscheinen dann die ersten Leistungen der Elektrizität, die alle bisherigen Gesetze umstösst. Der Bernsteinstab, der gestern gerade noch ein paar Sandkörnchen an sich zu ziehen vermochte, wurde potenziert zum Millionenfachen und Milliardenfachen menschlicher Muskelkraft und Geschwindigkeit. Botschaften bringend, Bahnen bewegend, Strassen und Häuser mit Licht erhellend, ein neues Leben schaffend. Erst durch diese Entdeckung hat die Relation von Raum und Zeit die entscheidende Umstellung seit Erschaffung der Welt erfahren. Die menschliche Wahrnehmung, seine Sinne, wird regelrecht überrumpelt.
Diese erste manifeste Beschleunigung des Alltags brachte die industrielle Revolution. Diese tief greifende und dauerhafte Umgestaltung der Lebensverhältnisse ist ähnlich als die Tragweite des Übergangs vom Nomadentum der Sammler und Jäger zur Sesshaftigkeit der Ackerbauer zu deuten.
Verbunden mit dem technischen Fortschritt entstand ein grosser Wirtschaftswandel. Das Symbol des sich entwickelnden Wohlstands ist die Dampfmaschine, die Quelle der Energieumwandlung und Energieerzeugung.
Ein kurzer Marschhalt zum Nachdenken.
Hunderttausend Jahre keine Beschleunigung. In den letzten 200 Jahren eine explosionsartige Steigerung der Geschwindigkeit, die industrielle Revolution. Und in den letzten zwei Jahrzehnten empfinden wir eine weitere Zunahme der Geschwindigkeit. Diese neue Beschleunigung ist der Vorbote der digitalen Revolution. Computer, Raumfahrt, Internet und Roboter greifen Platz. Mit einem enormen Tempo entsteht eine neue Gesellschaft von unübersehbarer Komplexität. Kein Land auf der Erde ist darauf vorbereitet, was da auf uns zukommt.
Wie geht das weiter? Neue Berufe entstehen. Ortsunabhängige Arbeitsplätze beherrschen den Alltag. Immer mehr Dienstleistungsberufe entstehen. Wesentlich weniger mechanische Arbeit wird durch den Menschen erledigt. Neue Formen der Familie entwickeln sich. Die schulische Bildung wird revolutioniert. Die Gesellschaft verändert sich sichtbar. Alles wird turbulenter, chaotischer. Vor allem wird alles transparenter. Die Frage, was noch privat ist und was nicht mehr, wird ständig neu verhandelt. Immer mehr und immer persönlichere Dinge werden öffentlich getan – und viele machen begeistert mit. Private Schnappschüsse, die früher in Schuhschachteln auf dem Estrich verblassten, werden auf Fotoplattformen im Netz millionenfach vor den Augen der Welt ausgebreitet. Seine Freunde hat man im Handy im Hosensack ständig mit dabei. Ganz für sich zu sein, ist ein Auslaufmodell. Das vermeldete bereits im Januar 2010 der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg.
Wie sich unsere Gesellschaft verändert hat, lässt sinnbildhaft am langsamen Verschwinden der Telefonkabine ersehen. Die Privatsphäre korrodiert. Einerseits wird immer mehr offener Zugang zu Informationen gefordert. Anderseits sorgen sich die Menschen um die Kontrolle ihrer persönlichen Daten durch Fremde und fürchten sich vor Clouds und Dropbox.
Ich erinnere mich an eine Kurzgeschichte der Science-Fiction-Literatur. Das Thema: Alle Menschen konnten die Gedanken der andern lesen. Es gibt keine Geheimnisse mehr. Es gibt nicht mehr die Möglichkeit private Gedanken für sich zu behalten. Auch lügen ist nicht mehr möglich. Die Quintessenz: im Alter von 20 Jahren stirbt der Mensch, stirbt die gesamte Menschheit aus. Ohne Intimsphäre, ohne Privatsphäre kann der Mensch nicht bestehen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt der Datenschutz an Bedeutung. Die Privatsphäre steht im 21. Jahrhundert zur Disposition. Wenn in der Cloud mehr Wissen über den Einzelnen verfügbar ist, als der Einzelne je über sich selbst erlangen kann, ist das ein ernstes Problem. Das Leben in einer Welt, in der alles digitalisiert wird, was digitalisiert werden kann, will gut gelernt werden.
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Lieber Hans,
Deine Kolumne ist wieder einmal brillant und, wie immer, seriös dokumentiert. Das Übersetzen in meine zweite Muttersprache war ein reines Vergnügen. Das gründliche Lesen welches das Übersetzen erfordert, veranlasst mich, Dir eine Frage zu stellen. An mehreren Stellen (Kein Land ist auf das vorbereitet, was da auf uns zukommt, ..alles wird chaotischer), kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass Du Zweifel daran hegst, dass die Menschheit die so gut beschriebene Beschleunigung bewältigen kann. Persönlich glaube ich dass das menschliche Wesen, das von der Bändigung des Feuers bis zur Raumfahrt alles gemeistert hat, auch diese schwindelerregende Beschleunigung bewältigt. Dein letzter Satz „Das Leben [ ] will gut gelernt werden“ lässt mich hoffen, dass auch Du daran glaubst!
Dein Freund Hans
Lieber Hans,
natürlich wird am Ende dieses Jahrhunderts die Menschheit mit der rassanten Geschwindigkeit der Entwicklung des digitalen Zeitalters fertig werden.
Was ich in meiner Kolumne andeuten wollte, ist, dass wir von einer Lawine von neuen unerwarteten Begebenheiten überschwemmt werden. Begebenheiten, die uns auf frischer Tat ertappen, uns auf dem linke Fuss erwischen. Das muss zu einer enormen Turbulenz im Alltag kommen. Ein Chaos, das zu ordnen seine Zeit braucht.
Beim Übergang vom Handwebstuhl zur technischen, maschinellen Weberei, anfangs der industriellen Revolution, könnte eine ähnliche Konsternation im Hirn des Menschen entstanden sein.