Wir hatten uns etwas aus den Augen verloren Dr. Rochat und ich. Seit dem ich jetzt mehr mit der Uni Fribourg zu tun habe, begegnen wir uns wieder öfters. Bisweilen trinken wir auch zusammen ein Bier.
Clément-Maxime Rochat studierte zur selben Zeit wie ich am Poly. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er in Physik eine Doktorarbeit geschrieben. Heute ist er emeritierter Ordinarius der Uni Fribourg. Am letzten dies academicus haben wir vereinbart, dass ich ihn Fribourg besuchen werde.
Er wohnt in der Altstadt, nicht weit von der Kathedrale St. Niklaus. Ende Februar dieses Jahres hatte ich in Fribourg ein Seminar. Roschi, so sein Studentenname, lud mich zum Geburtstag seiner Tochter am 29. Februar ein. Bis heute kannte ich niemanden, der an einem Schalttag Geburtstag hat. Ein gutes Vorzeichen für ein frohes Zusammenkommen. Seine Tochter, Louise-Antoinette, kam damals als vierjähriges Mädchen, ab und zu mit ihrem Vater zu mir in meinem Chemielabor zu Besuch. Ich kochte dort an meiner Diss. Heute muss diese Dame auch schon tief in den Fünfzig sein.
Mit einer gewissen nervösen Neugier begab ich mich in die Rue des Chanoines. Vor der Haustüre hörte ich schon, dass ich nicht allein sein würde. Kaum drinnen, wähnte ich mich an einer Doktorfeier. Studentische Anlässe, wie wir sie im Restaurant Linde Oberstrass in Zürich feierten, wenn einer unserer Kommilitonen die Doktorprüfung bestanden hatte. Bestimmt waren mehr als zwanzig Personen zu Antoinettes Geburtstag erschienen. In Grüppchen standen sie herum, lachten, debattierten, nahmen sich wichtig, genauso wie wir es vor mehr als fünfzig Jahren getan hatten. Eine fröhliche Runde von Studenten, Eltern, Kindern, Enkeln. Ich mitten drin, der grosse Unbekannte.
»Hallo Hänschen« das war Roschi. So unbekannt war ich doch wieder nicht.
»Fühl Dich wie zu Hause. Bediene Dich selbst. Da kommt Toni.« Eine schöne reife Frau, die Tochter des Hauses, kam auf mich zu und umarmte mich, wie man das mit guten Bekannten tut. Sie war beeindruckend. Nicht die landläufige Schönheit aus den Modeblättern. Eine sehr starke Erscheinung mit einer Ausstrahlung, die alles Irdische überdeckte.
»Schön das Du gekommen bist, Hänschen!«
»Antonia, Louise-Antoinette Du siehst bezaubernd aus. Deine Anwesenheit macht mich schwanken«.
»Keine kitschigen Komplimente, alle nennen mich Toni und Du bist immer noch Hänschen, wie damals im Labor. Daran erinnerst Du Dich noch, das sind weit mehr als 50 Jahre her?« «Ich war damals schon gescheit und erinnere mich noch genau, wie es bei Dir im Labor roch. Ganz anders als bei Paps. Komm, setz Dich.«
An einem kleinen Tischchen versammelten sich Vater, Mutter, Tochter und ich. Toni ist Lehrerin am kantonalen Gymnasium. Sie hat einen Lehrauftrag an der Uni. Dort arbeitet sie mit vier anderen Kollegen an einem Nationalfondsprojekt. Erinnerungen werden ausgetauscht. Mit »Du feierst Deinen Geburtstag ja wie zu studentischen Zeiten« brachte ich das Thema aufs Tapet. Es lag mir daran, die Gelegenheit zu nutzen. Jemand der am 29. Februar Geburtstag hat trifft man nicht alle Tage. Diese Besonderheit möchte ich mich nicht entgehen lassen. Genaueres auszuloten reizte mich.
Toni setzte zu einer detaillierten Erklärung an:
»Ich habe nur alle vier Jahre Geburtstag an meinem Geburtstag. Das kommt daher, dass uns die Erde nicht das Vergnügen bereitet, in genau 365 Tagen, um die Sonne zu kurven. Sie braucht einen Vierteltag mehr. Das summiert sich alle vier Jahre zu einem ganzen Tag, dem Schalttag. Merke: Immer wenn die Jahreszahl ohne Rest durch vier teilbar ist, wird das Kalenderjahr zum Schaltjahr«.
Toni muss es ja wissen. Hat sie doch Geographie und Physik, genauer Astrophysik, studiert.
»Für hundert Jahre ist diese Faustregel gültig.« führt Antonia fort, »bei allen vollen Hunderten, wie 1700, 1800 und 1900, braucht es noch einmal eine Korrektur. Diese Jahreszahlen sind zwar durch vier teilbar, die Jahre werden aber nicht zum Schaltjahr. Mit diesem Wissen ist es für 99% der Menschheit klar, dass es Schaltjahre gibt und dass man sie berechnen kann. Zur Not gibt immer noch die gültige Jahresagenda Auskunft!«
»Für mich aber nicht!« Das war Gabriel-Théo, der Sohn von Toni. Er hatte sich aus einer kleinen Gruppe von Gästen gelöst und setzte sich zu uns. »Darf ich vorstellen, das ist mein Sohn Gabriel, der Wissenschaftler. Er hat an der ETH einen Master in Mathe geholt und bastelt jetzt an einer Diss hier an der Uni. Kompliziertes naturwissenschaftliches Zeug.».
«Ich möchte die Ausführungen meiner Mutter nicht widerlegen, aber das Jahr 2000 war ein Schaltjahr.« Das hatte auch ich noch in Erinnerung. Zu ersten Mal meldete sich Edith, die Mutter von Toni, zu Wort.
«Wir wissen jetzt, es gibt Schaltjahre und normale Kalenderjahre von 365 Tagen. So weit, so gut. Da habe ich aber noch eine Frage: An welchem Tag feiert nun jemand wie Toni, in einem Jahr, wo der Februar nur 28 Tage hat, seinen Geburtstag?«.
«Die Mehrheit macht’s am 1. März.« sagte Roschi, der eben seine Pfeife angezündet hatte.
»Wie so oft, irrt auch hier die Mehrheit.« war die Antwort von Gabriel. »Richtig ist der 28. Februar!«
»Woher diese Sicherheit?« Wollte der Vater wissen.
Jetzt gehörte die Bühne Gabriel:
»Das haben wir Julius Cäsar zu verdanken, der uns mit seinem julianischen Kalender bis tief ins Mittelalter beschenkte. In Ägypten hatte er neben Cleopatra auch den hellenischen Kalender in Alexandrien kennen gelernt. Er löste damit sein Terminproblem des Schalttages. Wir haben ihn später auch in unseren, gregorianischen Kalender übernommen.
Cäsar hing den Schalttag nicht als letzten Tag im Februar an. Er fügte ihn vor dem 24. Februar ein. Damit erreichte er, dass Ereignisse, Jubiläen oder Geburtstage welche an den Daten 24./ 25./ 26./ 27. und 28. Februar ihren festen Platz hatten ihn auch dortbehalten konnten. Schaltjahr hin oder her. Egal ob wir uns in einem Schaltjahr befinden oder nicht. Die alten Römer kannten kein nummeriertes Datum wie wir. Sie orientierten sich in diesem Fall an dem ersten März.
Der letzte Tag des Monats Februar war der erste Tag vor dem ersten März. In einem Schaltjahr war das nach unserem Kalendersystem der 29. Februar und im Normaljahr der 28. Für die Römer war das die Form der Datumsgebung.
Wer also am 29. Februar geboren wurde, war am letzten Tag im Februar geboren. So sollte es auch in einem Nichtschaltjahr sein. Das Wiegenfest findet logischerweise dann am 28.,dem letzten Tag im Februar, statt.»
Nach einem tüchtigen Schluck Rotwein übernahm Toni wieder das Gespräch:
»Es ist immer eine helle Freude, wenn man bei seinen Kindern feststellen kann, dass von der klassischen Bildung im Gymnasium noch etwas hängen geblieben ist. Reichlich gewöhnungsbedürftig bleibt das Ganze mit dem julianischen Kalender trotzdem. Die Römer gingen beim Rechnen und beim Bestimmen des Datums ihre eigenen Wege. Meine Verwunderung über diese komplizierte Denkweise bleibt bestehen. Obwohl das römische System auch seine Vorteile hatte. Es signalisierte ein Ereignis im Voraus.
Wenn jemand auf den Ersten des Monats eine Schuld zu begleichen hatte, wusste er «fünf Tage vor den Kalenden des März», dass er in fünf Tagen seinen Gläubiger bedienen musste.«
Fast wie ein Schlusswort, setzt Gabriel jetzt zu seiner Bemerkung an.
»Für uns sieht es kompliziert aus. Für die Römer war es Alltag. Sie regierten damit immerhin während über 15 Jahrhunderten ein Weltreich.«
Wir waren so tief im Gespräch vertieft, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie sich die Geburtstagsversammlung schon ziemlich aufgelöste. Auch ich suchte die Gastgeberin. Bedankte mich für die Einladung und gratulierte Antonia zu ihrem klugen Sohn.
Wieder auf der Strasse, blickte ich den Turm der Patronatskirche hoch, und bewunderte die Schönheit der Gotik.
»Was man an einer Geburtstagseinladung nicht alles lernen kann.« dachte ich und stapfte dem Bahnhof entgegen.
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