Im Jahr 1770 wurde der Kaiserin Maria Theresia ein genialer Automat vorgestellt. Der Schachtürke. Er schlug menschliche Gegner beim Schachtspiel. Der Erfinder Wolfgang von Kempelen wollte eigentlich damit nur die Kaiserin beeindrucken. Doch der Schachtürke wurde zum Selbstläufer und ging auf Welttournee.
Die folgende Geschichte spielt im 18. und 19. Jahrhundert. Das war die Zeit des grossen technischen Aufbruchs in Europa. Die Zeit der ersten technischen Revolution. Es war die erste Phase der Industrialisierung. Die Beherrschung der Mechanik und der Thermodynamik, welche die Entwicklung der Eisenbahn und der Dampfmaschine ermöglichte. Darüber hinaus fand sie auch in den Fortschritten der Feinmechanik, der Automaten- und Uhrenmanufaktur ihren Niederschlag.
Es herrschte eine Begeisterung im Volk. Man war überzeugt, an die Gestaltung einer völlig neuen Zukunft mitzuwirken. Daraus ist verständlich, dass Automaten die schreiben und sprechen konnten, das Markenzeichen für diesen Aufbruch war. In meiner Kolumne vom letzten Januar [Roboter] habe ich mich schon dazu geäussert. Der Höhepunkt der Automatenbaukunst war der Schachtürke.
Die Menschheit freute sich immer über spektakulären Illusionen, wie sie von grossen Magiern im Theater präsentiert wurden. Bis in unsere Zeit hinein erreichen uns berühmte Namen. Houdini, der weltberühmte Entfesselungs- und Zauberkünstler. Kalanag, die erste Nachkriegsmagieshow grossen Stils. Der aus dem Fernsehen bekannte, Zauberkünstler David Copperfield. Jean Beckerelli und natürlich Siegfried und Roy, die Zauberkünstler in Las Vegas mit ihren Auftritten mit weissen Tigern und Löwen.
Genauso gestaltete von Kempelen seine Theaterauftritte. Neben dem Schachtürken liess er weitere Automaten, wie der Trompeter und der Brand von Moskau im Modell, auftreten. Er war nicht nur ein begnadeter Feinmechaniker. Er verstand es auch das Publikum als guter Conférencier und Showmaster zu fesseln. Verständlich, dass bei jedem Auftritt in jeder Stadt, die Presse sich um ihn und das Geheimnis des Türken kümmerte.
Damit begann die Geschichte des Schachtürken. Der deutsch-ungarische Hofsekretär und spätere Hofrat Baron Wolfgang von Kempelen (1734-1804) aus Preßburg/Bratislava demonstrierte im Frühjahr 1770 seine Erfindung der Kaiserin Maria Theresia und ihrem Gefolge am Wiener Hof. Die Kaiserin verlor die Schachpartie. Das Publikum war beeindruckt von dem scheinbar automatischen Schachspieler, der über eine aussergewöhnliche Spielstärke verfügte. Als Mensch, von einer Maschine beim Spiel der Könige geschlagen zu werden, muss für den Spieler der damaligen Zeit ein richtiger Schock gewesen sein. Kann die Denkkraft einer Maschine grösser sein als jene des Menschen?
Es war sowohl für den menschlichen Schachspieler, als auch für das Publikum ein tiefgreifendes Erlebnis. Die Vorstellung, wie ein Apparat, eine Maschine, ein seelenloses Wesen, die Denkvorgänge eines Menschen erkennen, analysieren, nachvollziehen und darauf logisch reagieren konnte, weckte Emotionen, regten zum Nachdenken an.
Kein Mensch verliess die Darbietung, ohne sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen: «Wie ist das möglich? Wie kann ein von Menschenhand konstruierter Apparat auf menschliche Gedanken logisch reagieren? »
Schach das königliche Spiel, das strategische Brettspiel, diente der Elite der Aufklärung als Zeitvertreib. Schach wurde zum reinen Vergnügen gespielt. Man kannte die Spielregeln und hatte seinen Spass am Schachbrett. Eine Partie dauerte ca. eine Stunde. Schach war allgemein bekannt. Die Qualität des Spiels war mit den heutigen Strategien der Schachmeisterschaften nicht zu vergleichen. Die Elite liebte das Spiel und hatte einen eleganten Zeitvertreib.
Nachdem Kempelen den Wiener Hof zum Staunen gebracht hatte, reiste er mit seinem Türken bis 1785 durch Europa. Er spielte in London, Paris und mehreren Städten Deutschlands vor der besten Gesellschaft. Stets war das Publikum beeindruckt.
Der Türke spielte in seiner Karriere gegen zahlreiche berühmte Persönlichkeiten. Neben Spielen gegen Maria Theresia und Benjamin Franklin bildete vor allem die Partie 1809 gegen Napoleon in Wien den Höhepunkt seiner Karriere. Napoleon versuchte, den Türken durch unerlaubte Spielzüge zu testen. Der Türke soll zuerst mit einer Verbeugung reagiert haben und stellte die Figur an ihren richtigen Platz. Nach weiteren Täuschungsmanövern Napoleons wischte der Automat die Figuren vom Tisch und heimste sich ein Lob des französischen Kaisers ein. Napoleon verlor darnach die zweite Partie.
Das Vorspiel der Präsentation der Show dauerte ungefähr 25 Minuten. Die lebensgroße Puppe in türkischer Tracht sass an der Rückwand eines eleganten Holzkastens. Wortreich und kompliziert erläuterte von Kempelen den Anlass. Das grosse Möbel wurde vorgestellt. Mit einem grossen Schlüssel, den er von seinem Schlüsselbund nahm, öffnete er eine Türe des Kabinetts. Eine komplizierte Apparatemechanik wurde sichtbar. Nichts als Walzen, Zahnräder, Übertragungsketten, Drehpendel, Hebel und ein Wirrwarr von Gestängen bekam das Publikum zu Gesicht. Mit schönen Gebärden nimmt er dem Türken die Pfeife aus der Hand. Im Vorbeigehen schliesst er eine weitere Türe auf. Eine Kerze wird angezündet. Das Gebilde, Türke, Schachbrett, das ganze Möbel – es steht auf Rädern – wird um 180° gedreht. Die Rückseite des Türken wird sichtbar. Eine Hintertüre wird entriegelt. Mit der Kerze wird der sichtbar gewordene Innenraum ausgeleuchtet. Nichts zu sehen. Lauter Leere.
So geht die Vorstellung weiter bis der Türke wieder dem Publikum zugewendet ist und die Schachpartie beginnen kann.
Eine besondere Feinheit.
Mitten im Spiel, als der Türke eine Figur ergriffen hatte und sie auf ein neues Feld platzieren wollte, hält er inne. Der Arm bewegt sich nicht mehr. Die Figur hängt über dem Schachbrett in der Luft. Von Kempelen, der Präsentator, beeilt sich, geräuschvoll die Mechanik wieder aufzuziehen und das Spiel geht weiter. Der Türke platziert den Turm. Bei jedem Zug war ein Rasseln und Ächzen von Zahnrädern zu hören. In diesem Fall waren diese Maschinengeräusche, im Gegensatz zu anderen Androiden und Automaten, wohl erwünscht, lenkten sie doch von dem Gedanken ab, die Maschine könnte von einem Menschen in ihrem Inneren betrieben werden.
Nach dem Tod des Barons von Kempelen ging der Türke in den Besitz seines Sohnes über, der ihn schliesslich an den Hofmechanikus Johann Nepomuk Maelzel verkaufte. Damit begann ein neuer, nicht minder aufsehenerregender Abschnitt in der Karriere des Türken.
Am 3. Februar 1826 traf Maelzel mit dem Türken in Amerika ein.
68 Jahre trat der Türke in ganz Europa und in den gesamten USA auf. Das Artefakt wurde laufend verbessert. Der Türke konnte später einige Worte wie «Schach», «Schach und matt» sprechen. Gegen Ende seiner Karriere erlosch das Interesse für das automatische Schachspiel. Zu sehr war man jenseits des Atlantiks an das Showbusiness gewohnt. Die Zeit des romantischen Automaten war abgelaufen. Es kamen Nachahmungen auf den Markt. Nie und niemand hat das Geheimnis «wie funktioniert der Türke? » gelöst.
Sowohl in Europa, wie auch in den Vereinigten Staaten erschienen viele Publikationen, welche versuchten, das Geheimnis zu lösen, das Funktionieren des Türken zu erklären. Eine echte Lösung wurde nie gefunden. Der berühmte amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe kam der Wahrheit am nächsten.
Er sah den Türken 1835 in Richmond/Virginia und veröffentlichte einen Essay mit dem Titel „Mälzels Schachspieler“. Poe vermutete, dass ein verborgener Spieler in der Figur des Türken den Arm bewege.
Zahlreich waren die Spekulationen über die Funktionsweise des Schachtürken. Hatte von Kempelen tatsächlich einen genialen Automaten entwickelt, der der menschlichen Intelligenz ebenbürtig war? Waren es magnetische Kräfte oder unsichtbare Schnüre, die den Türken bewegten? Sass ein Kleinwüchsiger oder ein Kind im Kasten? Die Vermutungen füllten Traktate und Bücher. Zwar waren einige Autoren der Wahrheit auf der Spur, doch ganz genau konnte niemand das Geheimnis lüften. In der Öffentlichkeit wurde viel spekuliert. Es wurde geschrieben, diskutiert, debattiert.
« Mälzel’s Tochter schlüpft vor der Vorstellung in die Kleider des Türken.» Am nächsten Tag führte der Vater galant eine sehr schöne, zierliche junge Dame, seine Tochter, am Arm in den Saal und wies ihr einen Stuhl in der ersten Reihe des Theaters an. Sie sass dort während der ganzen Vorstellung. Während der Türke wieder ein Spiel gewann. Von mehr als dreihundert gespielten Partien endeten 9 mit Remis, zwei mit Matt. Alle anderen gewann der Türke.
Wie funktionierte der Türke nun wirklich?
E. A .Poe hatte recht, im Kasten befand sich ein Schachspieler. Jede Sitzung mit dem Schachtürken von Kempelen, später Mälzel, wurde durch ihre professionelle Präsentation, die einer magischen Vorführung glich, eingeführt. Wie bereits beschrieben, waren sie immer sehr eloquent mit Finten und Ablenkungen gespickt um das Publikum in die Irre zu führen. Die folgenden vier Bilder zeigen, wie sich der interne Schachspieler während der Vorführungen des Kabinetts verhielt. Dem Publikum war er nie zu Gesicht gekommen. Die Zuhörerschaft war sicher, die Kästen des Möbels seien entweder mit komplizierten Maschinenelemente gefüllt oder leer.
Diese Skizzen zeigen, wie der Bediener mittels eines verschiebbaren Sitzes und klappbare Trennwände verhindern konnte, dass das Publikum ihn beim Öffnen der Türen sah. Eine wichtige Rolle spielten die Kerzen. Zwei standen neben dem Schachbrett. Eine Dritte benötigte der schachspielende Gehilfe zur Beleuchtung seines Schachbretts. Auch wenn es nach verbranntem Kerzenwachs roch, so kam dies von den beiden für jedermann sichtbaren Kerzen. Im Innern des Türken war die Luft stickig und verqualmt. Länger als eine Stunde hielt man es in dem Kabäuschen nicht aus. Die Partien dauerten nie länger.
Der Spieler nahm seinen Arbeitsplatz ein. Er richtet sein Schachbrett vor ihm auf. Dieses spezielle Schachbrett hatte jeweils auf dem Feld zwei Löcher. Das eine diente dafür, die Schachfiguren, welche unten einen Stahlstift hatte, festzuhalten. Das andere Loch wurde benötigt um mittels eines Pantographen den Arm des Türken mit grosser Präzision auf dem oberen, sichtbaren Schachbrett zu positionieren. Ein hochkompliziertes Hebelsystem, echte Mechanik, erlaubte der Puppe, die Figuren zu bewegen. So kam jede Spielfigur genau auf das entsprechende Feld des oberen Schachbretts.
Wie aber wusste der verborgene Spieler, welchen Zug sein Gegner gemacht hatte? Die Steine des oberen Schachbretts enthielten auf der Unterseite einen sehr starken Magneten. Unter jedem Feld des oberen Schachbretts befand sich im Innern des Kastens eine kleine Metallscheibe. Diese hing an einem feinen, spiralförmig gedrehten Draht. Wenn nun eine Schachfigur auf ein bestimmtes Feld gestellt wurde, zog der Magnet die Scheibe an und hob sie bis an den Deckel des Kastens. Wurde die Figur weggenommen, fiel die Scheibe wieder nach unten und wackelte noch ein paar Sekunden lang an ihrer Drahtspirale. Der Spieler beobachtete die Unterseite des Spielbretts. So konnte er feststellen, welche Figur wohin gezogen wurde. Er übertrug das auf sein eigenes Brett und überlegte den Gegenzug.
Der Spieler konnte über eine Zahlenscheibe mit dem Präsentator kommunizieren. Erschien die eins, in einem von aussen sichtbaren Feld hiess dies zum Beispiel: «Meine Kerze ist ausgelöscht. Mache ein bisschen Krach, damit ich eine Neue anzünden kann. » Stellte der Präsentator die Scheibe zum Beispiel auf 4, hiess das «Lass den Spieler gewinnen»
Verwunderlich ist es, dass die Männer und Frauen, die den Türken während seiner aussergewöhnlichen Karriere bedient hatten, sein Geheimnis so treu gehütet haben.
Es ist erstaunlich, dass das Rätsel nie verraten wurde. Es waren immerhin immer wieder neue Personen im Kasten. welche die Partie mitspielten und den Türken bedienten.
1840 war die Zeit des Türken vorbei und 1854 verbrannte der Automat in einer Abstellkammer des „Chinesischen Museums“ in Philadelphia.
Die Entwicklung des Computers brachte die im 19. Jahrhundert entstandene Überzeugung, es könne nie eine Schach spielende Maschine geben, ins Wanken. Es sollte bis ins Jahr 1997 gehen. Die Entwicklung grosser datenverarbeitende Rechner und die Fortschritte auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz machten es möglich. Der Schachweltmeister Garri Kasparow trat im Mai 1997 in Manhattan gegen den IBM-Computer Deep Blue an. Es wurde unter Tournier-Verhältnissen mit regulären Zeitkontrollen gespielt. Der amtierende Schachweltmeister wurde geschlagen. Endlich nach mehr als zwei Jahrhunderten, schien Kempelens Traum von einer Schachmaschine, die auch den besten Spieler der Welt besiegen konnte, in Erfüllung gegangen zu sein.
Mitte Juni dieses Jahres hatte ich Gelegenheit mit Dominic Bieri und Altin Aliçkaj zusammen zu kommen. Diese zwei Maturanden der Kantonschule des Zürcher Oberlands hatte als Maturitätsarbeit einen Schachroboter entwickelt. Der entstandene Schachroboter spielt nicht nur gegen den Menschen, sondern führt seine eigenen Züge auch auf einem realen Schachbrett aus. Der lebende Schachspieler, der Mensch, spielt mit den weissen Figuren. Das computergesteuerte Schachbrett antwortet selbstständig mit Schwarz. Wie von Geisterhand bewegen sich die schwarzen Figuren über das Brett. Die dazu notwendige Software, wie die dazugehörige Feinmechanik hatten die beiden jungen Männern von null auf selbständig entwickelt. Am Anfang gab ihnen niemand eine
Chance, diese anspruchsvolle Maturaarbeit erfolgreich abzuschliessen. Sie haben es aber geschafft. Eine grossartige Leistung. Für mich war es ein schönes Erlebnis zu sehen, wie der Schachtürke seine Faszination bis in die heutige Zeit nicht verloren hatte.
Quelle:
Tom Standage
Der Türke
Die Geschichte des ersten Schachautomaten und seiner abenteuerlichen Reise um die Welt.
Aus dem Englischen von Thomas Merk und Thomas Wollermann.
Campus Verlag Frankfurt / New York
ISBN 3-593-36677-0
www.tomstandage.com
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