Seit Jahren kann ich von meinem Fenster aus das selbstbewusste Gleiten eines Rotmilans [milvus milvus], volkstümlich »Hühnervogel« genannt, beobachten. Er ist nach Bartgeier und Steinadler der drittgrösste Greifvogel. Beinahe täglich zieht er majestätisch seine Kreise. Bewundernswert ist die Flugtechnik. Er ist ein ausgezeichneter Segelflieger. Stundenlang kreist er über meinen Garten. Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, startet er, mit wieherndes Trillern, ein Kunstflugprogramm. In steilem Sturzflug verschwindet er im Gebüsch. Kommt wieder hervor und fliegt in die Höhe. Souverän steuert er mit seinen Schwanzfedern die nächsten Volten und Kehren. Eine freche Krähe nähert sich. Sie fordert ihn zu einem regelrechten Luftkampf auf. Der Milan verlässt ohne sich umzublicken das Revier. Eine halbe Stunde später tritt er als König der Lüfte wieder auf. Wie wenn nichts gewesen wäre.
Wer da nicht von der Lust erfasst wird, selber fliegen zu wollen.
Seit Jahrtausenden ist es ein Menschentraum, fliegen zu können wie ein Vogel! Mindestens aber wie ein Schmetterling oder eine Fledermaus. Dieser Drang in die dritte Dimension, muss ein Urbedürfnis der Menschheit zu sein.
Schon in der griechischen Sage von Dädalus und Ikarus befreiten sich die beiden aus der Gefangenschaft, indem sie ein Federkleid aus Geierfedern bauten und davonflogen. Allerdings mit der tödlichen Landung von Sohn Ikarus. Vater und Sohn hatten die Federn mit Wachs an einem Gestänge geklebt. Vor dem Start schärfte Dädalus seinem Sohn Ikarus ein, nicht zu hoch und auch nicht zu tief zu fliegen. Die Hitze der Sonne oder die Feuchte des Meeres könnte dem Wachs schädlich sein. Es würde zum Absturz führen. Wir wissen es ja, Ikarus bekam immer mehr Freude am Fliegen. Er wurde übermütig und stieg zu hoch auf. Das Wachs schmolz und er fand den Tod. Die Strafe der Götter für seinen Übermut. Soweit die Sage.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts ist es der Menschheit nicht gelungen, sich fliegend in der Luft zu bewegen. Wie frustrierend muss das gewesen sein. Die Vögel konnten etwas, was die Menschen nicht konnten.
Im 8. Jahrhundert startete ein islamischer Gelehrte Abbas Ibn Firnas einen Versuch. Aus Geierfedern – das gleiche Material wie bei Dädalus – baute er einen Hängegleiter. Der Flugversuch gelang. Bei der Landung jedoch brach der Pilot beide Beine. Aus der Traum.
Wie viele Menschen über Generationen, träumte auch Leonardo da Vinci vom Menschenflug. Die Versuche, den Flügelschlag eines Vogels mit Maschinen und Vorrichtungen zu imitieren, scheiterten. Leonardo hat sich über das Fliegen lange den Kopf zerbrochen. Akribisch beobachtete er die Seeadler, wie sie in den starken Aufwinden der Klippen, scheinbar schwerelos, schwebten. In seinen Skizzierbüchern befinden sich zahllose Zeichnungen von Flugapparaten. Vorbilder waren immer die Vögel, die ihre Flügel auf- und abschlagen. Jahre später nahmen seine Konstruktionen Abkehr von den Schwingenflugzeugen. Seine Flugapparate nahmen immer mehr die Gestalt von Segelgleiter an. Damit hat er die Konstruktion, des drei Jahrhunderten später entwickelten Segelflugzeugs von Lilienthals (1895), vorweggenommen.
Zwei Gründe waren es, die die Ideen des Genies Leonardos nicht zum Erfolg führten. Das Baumaterial der Renaissance – Holz und Segeltuch – war zu schwer und deshalb ungeeignet. Als Zweites war das Prinzip des Auftriebs, im Zusammenhang mit der Form des Flügels nicht bekannt. Dieses wurde zwei Jahrhunderte später von Daniel Bernoulli entdeckt. Trotz der Beobachtung der Vorbilder in der Natur, hat der Mensch sehr lange gebraucht, um das Funktionsprinzips des Flügels, als Grundsatz des Auftriebs, zu verstehen und nachzuahmen. Erste erfolgreiche Flüge mit Apparaten, die geeignet waren, das Gewicht eines Menschen zu tragen, gelangen mit dem Gleitflug von Otto Lilienthal.
Längere Flugstrecken mit einem steuerbaren Flugzeug zurück zulegen gelang Orville Wright mit seiner motorisch betriebenen Flugmaschine «Kitty Hawk». Damit legte er den Grundstein für die rasante Entwicklung der Luftfahrt.
Warum konnte der Menschenflug erst im 20. Jahrhundert realisiert werden? Wie ich schon in meiner Kolumne »Engpass« vom November festhielt, die Zeit dafür, war noch nicht reif. Die historische Gelegenheit, das richtige Baumaterial und die physikalischen Erkenntnisse trafen erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen. Leonardo war der Lösung des Problems theoretisch sehr nahe gewesen. Ihm fehlten die richtigen Baumaterialien. Die Brüder Wright konnten diesen Engpass überwinden. Der Benzinmotor war eben erfunden. Damit konnte eine neue Industrie starten. Starre Flügel für den Auftrieb und ein motorbetriebener Propeller für den Antrieb.
Die Natur gibt dem konstruierenden Ingenieur viele Vorbilder. Die Wabenstruktur der Kieselalgen gab die Vorlage für Leichtbauträgerplatten. Pflanzen, besonders Bäume, lieferten Anregungen für die Statiker. Die Libelle zeigte, wie ein Helikopter zu fliegen hat.
Eins zu eins sind die Konstruktionen der Natur nicht zu übernehmen. Es braucht mehr! Der kreative Geistesblitz des denkenden Menschen muss die Erleuchtung für die praktische Anwendung erhellen. So wird aus dem Anstoss aus der Natur, ein in der Praxis verwendbares Produkt.
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