Ökonomie

 

 

Nach dem Waffenstillstand, welcher den Zweiten Weltkrieg beendete, hatte mein Vater in Fribourg ein kleines Hotel gepachtet. Fribourg war damals schon eine fröhliche Studentenstadt. Viele Studiosi verkehrten bei uns in der Gaststube. Der grosse Saal im ersten Stock wurde sogar gelegentlich als Fechtboden für pflichtschlagende Studenten aus Bern benutzt. An der Freiburger Universität gab es keine schlagenden Verbindungen.
Zu den Mietern der Zimmer des Hotels zählten regelmässig Studenten aus dem Oberwallis. Einer der Bewohner war Karl Adolf Bayard, der Sohn des Arztes von Leuk-Stadt. Er war sieben Jahren älter wie ich. Wir kannten uns schon lange aus der Zeit, da wir noch in Leuk wohnten. Oft hatte ich Gelegenheit mit ihm zu plaudern oder seinen interessanten Geschichten zuzuhören. Wir verstanden uns gut. Von ihm habe ich so einiges gelernt. Er studierte Ökonomie. Eines nachmittags wollte ich von ihm wissen, was Ökonomie eigentlich sei. Wir sassen zusammen im Carnotzet. Er mit einem Bier von der Brassserie Cardinal. Ich mit einem Glas Süssmost von der Mosterei in Düdingen. Gemütlich setzte Karl Adolf zu folgender Geschichte an:

Kaum zehn Jahre nach dem Frieden von Versailles, dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurde ganz Europa und Amerika von einer sehr grossen Krise, der Weltwirtschaftskrise, heimgesucht. Am »Schwarzen Freitag« im Oktober 1929 brachen die Finanzbörsen ein. Eine sehr unstabile, materielle Lage war die Folge. Massenarbeitslosigkeit, Konkurse zu Hauf, Zahlungsschwierigkeiten der Banken, der grosse Bankenkrach, riesige Spekulationsverluste, weltweite Verschuldung, Armut und Hunger plagten die Mitmenschen.
Die Schweiz wurde von diesem Unglück nicht verschont. Ich möchte Dir am Beispiel der Gemeinde Gadmen zeigen, wie sich die Krise bei uns in der Schweiz manifestierte. Gadmen liegt im Berner Oberland an der Auffahrt zum Sustenpass. Dieser war zu der Zeit ein Saumpass, welcher die Verbindung zu Wassen im Kanton Uri herstellte. Man lebte von Alp- und Viehwirtschaft und vom aufblühenden Tourismus. Um die Jahrhundertwende lebten dort ungefähr 800 Menschen. Als die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreichte, hatte sich die Bewohnerzahl auf die Hälfte reduziert. Die Armut zwang den Menschen auszuwandern. Die meisten zogen nach Nordamerika, einige auch nach Brasilien. Wer zurückgeblieben war, schlug sich so recht und schlecht durchs Leben. Alle hatten Schulden. Es war ein Dasein auf Kredit.
Eines Tages im August 1932, betrat ein reicher Tourist die Halle des Hotel Bären und legte eine Fünfzigfrankennote auf den Tresen im Empfang. Es handelte sich um die echte grüne Banknote, auf dessen Rückseite der berühmte Holzfäller von Ferdinand Hodler abgebildet ist. Der Tourist begab sich in den ersten Stock des Hotels, um ein für ihn geeignetes Zimmer auszuwählen. Gleichzeitig schnappte sich der Hotelier das Geld, eilte zum Metzger und beglich dort seine Schuld. Der Fleischer, von Geldsegen beglückt, rannte zum Schweinezüchter und entledigte sich dort seines Ausstandes. Dieser wieder bezahlte damit seine fällige Miete beim Immobilienverwalter Busslinger. Busslinger, dieser Lebemann, stand bei einer Dame des ältesten Gewerbes der Welt in der Schuld und kaufte sich frei. Sie schritt wie eine Königin zum Hotel Bären. Stand sie dort doch wegen einer Zimmermiete in der Kreide. Der Hotelier, wieder im Besitz der Banknote, legte diese zurück auf die Tresen. Gerade in dem Augenblick, als der wohlhabende Hotelgast die Treppe hinunter kam. Sein Geld lag noch da. Er nahm es an sich, mit der Bemerkung, er habe kein Zimmer gefunden, welches ihm entspräche, und verlies das Gasthaus durch die Eingangstüre.
Kein Mensch hatte etwas verdient. Nichts hatte sich verändert. Nur das ganze Dorf war schuldenfrei. Das ist Ökonomie! 

Karl Adolf bestellte ein zweites Bier. »Ökonomie scheint mir wirklich einfach. Warum muss man das überhaupt an der Uni studieren?« fragte ich Karl Adolf. »Das frage ich mich auch.« War die lakonische Antwort.
Karl Adolf hat nach zwei Semester Betriebswirtschaft umgesattelt und ist Doktor der medizinischen Wissenschaften geworden.

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