Da jammert ein Journalist in einer Pendlerzeitung »Herbst viel zu trocken!« und füllt, weil keine bessere News vorliegt, viele Zeilen mit Unsinn. Ich lese diesen Text eher ungewollt und zufällig. Im Zug von Luzern nach Zürich fahrend, lag das Blatt verlassen, auf dem Sitz vis-à-vis.
Meine wirklichen Gedanken sind noch bei der Gemäldeausstellung im Kunstmuseum. Die Kuratorin hatte die Bilder von Robert Zünd aus dem Fundus geholt. Zünd war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lange Zeit ein gefeierter, bekannter luzerner Landschaftsmaler. Er ist dann in Vergessenheit geraten und von der Moderne überholt und verdrängt worden. Es ist ein Verdienst des Kunstmuseums Luzern diesen begabten Luzerner aus der Versenkung zu holen. Seine Bilder zeichnen sich durch einen äusserst naturalistischen, detailreichen Malstil aus. Die Bilder, hauptsächlich idyllische Landschaften rund um Luzern, nehmen den Betrachter in Besitz. Ich weiss nicht genau was es ausmachte, ich fühlte mich von diesen Landschaftsbildern ganz besonders angezogen. Lange stand ich vor seinem »Eichenwald«. Da packte mich Ehrfurcht vor dem Schönen.
Ich lege die Zeitung beiseite. Durch das Fenster des Waggons zieht gerade der Rotsee vorbei mit seinen Laubbäumen. Die Sonne steht schon tief. Sie bestrahlt ein gelbrotbraunes Blättermeer. Gelbe Ahornblätter und rote Blätter der Eichen. Da fällt mir etwas anderes ein. Von Erinnerungen werde ich heute nur so verfolgt. Ein paar Jahre zurück war ich im Herbst am Sankt-Lorenz-Strom in Kanada. Die Bäume standen im Herbstkleid. Wundervoll zeigten sich alle Laubbäume im goldenen, herbstlichen Glanz. Alle Welt nennt das den «Indian Summer». Genau so sieht es jetzt am Rotsee aus. Der »Indian Summer« hat sich von Nordamerika an den Rotsee verlagert. Ein stahlblauer Himmel, eine intensive Blattverfärbung des Baumlaubes und ein goldener Sonnenstrahl malen ein Landschaftsbild in die Natur. Da stehen sie, der Ahorn, die Eibe, die Buche und die Esche buntgemischt und nehmen vom Sommer Abschied. Ihr grünes Sommergewand haben sie durch ein farbiges Abendkleid ausgetauscht. Eine Farbensinfonie so weit das Auge reicht. Im Herbst malt die Natur ihre Landschaftsbilder. Ohne Pinsel, ohne Staffelei, ohne Leinwand. Warum dieser Aufwand? Natürlich, auch zur Freude des Betrachters. Aber da muss noch mehr dahinter stecken? Was ist das Geheimnis der Natur für diese Blattverfärbung?
Mit diesem Vorgang bereiten sich die sommergrünen Bäume und Sträucher auf die kalte wasserarme Jahreszeit, den Winter, vor. Ein regelrechter Alterungsprozess. Die Arbeit ist getan. Die Früchte sind reif. Das Blattgrün wird nicht mehr gebraucht. Die Photosynthese wird zurückgefahren. Das Grün wird abgebaut. Andere Pigmente, die sich auch im Blatt befinden werden jetzt sichtbar, kommen zum Vorschein. Rot und vor allem gelb treten sie an die Öffentlichkeit. Die Pflanze schaltet auf Sparflamme und wirft bei der ersten einbrechenden Kälte die Blätter ab. So wird der Wasserhaushalt reguliert. Eine Birke in vollem Laub verdunstet etwa 150 Liter Wasser pro Tag. Im Winter wird das Wasser knapp. Der Laubfall ist eine Anpassung an den winterlichen Wassermangel. Hätte die Birke im Winter noch alle ihre grünen Blätter, welche weiter Wasser verdunsteten, so würde sie langsam austrocknen und sterben.
In Zürich angekommen, geht wieder ein schöner Herbsttag zu Ende. Zwei Monate lang hatten wir prächtiges Herbstwetter. Kein Regen, wie es sonst, gegen Ende des Jahres in unserer Gegend üblich ist. Auch kein Nebel. Es war ein Jahrhundert-Herbst. So schön wie das Bild »Buchenwald« von Robert Zünd. Im Museum ist das Bild des Landschaftsmalers ganz bestimmt Kunst. Gibt es in der Natur auch so etwas wie Kunst? Das Kunststück sich auf das Überleben im kalten Winter zu rüsten? Das ist doch wohl auch Kunst. Dieser Frage ist nachzugehen: »Was ist eigentlich Kunst?«
Seit der Mensch denken kann, wurde über Kunst philosophiert, und nachgedacht. Die Philosophen und Kunsthistoriker haben über viele Epochen hinweg die Theorie der Aesthetik entwickelt. Gleichviel ob es sich um Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur oder Theater handelte, es ging immer um Erhabenheit und um das Schöne. Diese Erkenntnisse sind wichtig und nötig. Für mich sind sie zu theoretisch, zu praxisfern. Wenn ich etwas lese, sehe oder höre, was mich in seinen Bann schlägt, empfinde ich Kunst. Wenn es mich vereinnahmt, mich zum Denken veranlasst und mich anschliessend mit einem guten Gefühl entlässt, so ist das Kunst, meine Kunst. Ich bin nicht in der Lage zu beurteilen ob es, wie es landläufig so heisst, wirklich schön ist. Wenn es mir gefällt und mir etwas gibt, das mich gedanklich weiter bringt, so nenne ich das Kunst. Damit wird die Kunst für mich zu etwas sehr Persönlichem, etwas Eigenem, meine Sichtweise. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist dasselbe Erlebnis für jemanden andern gar nichts ansprechendes. Für ihn ist es vielleicht gar nichts, das den Namen Kunst verdient. Jeder hat sein eigenes Kunstverständnis.
So erlebte ich diesen Herbst einen hohen künstlerischen Genuss in der Ausstellung von Robert Zünd und bei der Betrachtung der Herbstlandschaft, in der untergehenden Sonne am Rotsee.
Dass mich dabei der trockene Kommentar in der Gratiszeitung wenig bedeutet, wird, so hoffe ich, bei den Leserinnen und Leser dieser Kolumne auf Verständnis stossen.Im Grunde ist jeder Mensch ein Künstler!
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