Als ich gestern in meinem Garten die Küchenkräuter pflegte, sie mit Wasser versorgte und ihnen gutes Gedeihen zusprach, kam mir Stephanie in den Sinn. Sie war in Leuk, als ich dort 1944 zur Schule ging, die Küchenmagd meiner Grossmutter. Bei den Heilkräutern kannte sie sich so gut aus, dass sie meinen Onkel Marcel in Neuenburg regelmässig mit frischen walliser Heilkräutern belieferte. Marcel hatte eine bedeutende Apotheke in der Hauptstadt des Jurakantons.
Stephanie kannte in der Umgebung von Leuk alle Standorte von Pfefferminz, Arnika, Kamille, Johanniskraut und vieles mehr. Auch Salbei, Lavendel und Frauenmantel schickte sie in die Apotheke. Neben dem breiten botanischen Wissen war sie auch über die Heilwirkung der Pflanzen auf dem Laufenden. »Gegen alles ist ein Kraut gewachsen.« sagte sie mir einmal. Woher die einfache Magd ihr Wissen hatte, weiss ich nicht. Was ich von ihr mitbekommen habe, ist die Bedeutung welche die Heilkräuter in der damaligen, von Hausmitteln geprägte ärztliche Kunst, für eine Rolle spielten.
Ab damals war mir klar, mein rudimentäres Wissen, welches sich auf die Verwendung von Petersilie und Schnittlauch in der Küche beschränkte, muss erweitert werden.
Die Wirkstoffe in den Kräutern gehen weit über die nur medizinische Verwendung hinaus. Sie finden Anwendung als Duftstoffe, als Schönheitsmittel, sogar als Schädlingsbekämpfer in der Landwirtschaft. Die Menschheit hat sich immer mit der Wirkungsweise von Kräutern beschäftigt.
Ich bin mir beinahe sicher, dass schon die Bewohner der Höhlen von Lascaux, in der Dordogne vor 18’000 Jahren, von der heilenden Wirkung gewisser Pflanzen Kenntnis hatten. Man darf annehmen, dass das Wissen über die Linderung von Leiden durch den Konsum von Pflanzen den Menschen in seiner ganzen Entwicklungsgeschichte begleitet hat.
Bei uns, in Europa, waren es die Klöster, die das Wissen gesammelt und angewendet hatten. Sie waren im Mittelalter die Zentren des medizinischen Wissens. Die Mönche übersetzen die Texte der antiken Ärzte auf Lateinisch. Ihrem Leitspruch »bete und arbeite« getreu, entstanden in Klostermauern Krankenbereiche mit einem grossen Kräutergarten. Die Klöster waren die Vorläufer der Universitäten. Sie trugen mit ihrem Wissen und ihrer praktischen Arbeit viel zur Entwicklung der medizinischen Wissenschaft bei.
Heute noch ist das Wissen über die Wirkungsweise der Pflanzensäfte eine wichtige Grundlage in der klassischen Medizin.
Die Medizin hat sich seither grossartig weiterentwickelt. Die Darreichung von heilenden Wirkstoffen ebenfalls.
Damit hat die Anwendung von Hausmittelchen Konkurrenz bekommen. Medizin und Pharmakologie sind wissenschaftlich geworden.
Es entstand die Pharmaindustrie. Sie ist in der Lage Wirkstoffe zu isolieren, sie synthetisch herzustellen. Man bedenke; unser Allerweltsheilmittel Aspirin kam 1874 auf dem Markt und gehört heute noch zum Heilmittelschatz jeder Hausapotheke! Auch Valium ist heute schon über 50 Jahre alt. Das heisst nicht, dass die Pflanzenheilkunde in die Versenkung abgedriftet ist. Sie bleibt ein Bestandteil der Heilkunde.
Mit den Fortschritten der medizinischen Wissenschaft hat sich auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient geändert. Medien und das Internet tragen ein nicht zu unterschätzendes Scherflein dazu bei. In der Öffentlichkeit verbreitet sich ein Populärwissen über Krankheit und Heilung. Beim Doktor in der Praxis kommt es plötzlich zu einem Dialog zwischen dem Patienten und dem Arzt. Die Zeiten der autoritären Verordnung von Sirup und Pülverchen sind vorbei. Der Patient, mit seinem Halbwissen aus dem Fernsehen, stellt Fragen, äussert Misstrauen und Bedenken, macht Vorschläge. Die therapeutischen Notwendigkeiten durch den Fachmann werden nicht mehr wortlos akzeptiert. Dieser muss erklären, vorsichtig das Wikipedia-Wissen des Kunden ins rechte Licht rücken. Die Bekämpfung des Leidens wird zum Ergebnis einer Verhandlung.
Auch das ist eine Folge der Entwicklung einer Gesellschaft, welche grenzenlosen Zugang zu allem Wissen hat. Nur fehlt leider die Fähigkeit aus diesem Ozean von Fakten die richtigen Themen im richtigen Zusammenhang herauszfischen. Dazu ist das Studium der Medizin Voraussetzung.
So hat sich, quasi durch die Hintertür, bei einer grossen Gruppe der Bevölkerung, ein Misstrauen gegenüber den Leistungen der Pharmaindustrie eingeschlichen. »Zurück zur Natur! Weg mit den Pillen und den Dragees! Nur was die Natur anbietet, kann gesund und heilsam sein.«
Plötzlich stehen dem Erdbewohner zwei Lager gegenüber. Das erste ist zwar mengenmässig klein. Versteht es aber, in der Öffentlichkeit eine grosse Aufmerksamkeit zu erhaschen. »Nur Natur« ist ihre Maxime. Das zweite Lager, das grössere, mehr besonnenere, weniger polemische, ist der Kunst der Medizin gegenüber dankbar. Es ist beruhigend im Notfall einen guten Mediziner zu kennen, der ihm dann beisteht.
Für die Anhänger der Natur möchte ich darauf hinweisen und bitte dies nicht zu vergessen, dass die Tollkirsche [atropa belladonna], diese giftige, todbringende Frucht, ein Naturprodukt ist.
Für die andere Liga lautet meine Empfehlung: hören sie auf ihre innere Stimme, wenn sie mit ihrer Gesundheit nicht mehr im Gleichgewicht sind. Für kleinere Wehwehchen denken sie an Stephanie. Wenn es schlimmer wird, gehen sie zu einem Arzt, zu dem sie vertrauen haben.
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Pflanzen oder Chemie – das ist die Frage!
Zuallerserst ist zu bemerken, dass unser Körper eine bemerkenswerte Selbstheilungskraft hat! Diese wird noch verstärkt durch das Phänomen Placebo. Damit können geradezu punktgenaue Heilimpulse mobilisiert werden.
Pflanzliche Mittel wirken oft erst einmal über die Placebowirkung. „… habe etwas genommen!“.
Aber die Pflanzen enthalten auch echt wirksame Stoffe. So z.B. die Weide, sie hat Wirkstoffe wie sie im Aspirin chemisch rein vorhanden sind. Im Weiden-Aufguss sind dann neben der Salicylsäure noch andere, nicht näher identifizierte Substanzen in unbekannten Konzentrationen hilfreich. Diese komplizierten Mischungen von Substanzen sind typisch für die pflanzlichen Medikationen. Das Wissen um die Wirkungen von pflanzlichen Anwendungen ist somit äusserst kompliziert und kann nur in episodenhafter Form erfasst und weiter gegeben werden.
Moderne Medikamente basieren meist auf reinen chemischen Substanzen, klar definiert und abgemessen. Viele haben ihren Ursprung in den Wirksubstanzen von Pflanzen. Die Anwendung stützt sich auf klar geplante Versuchsanordnungen – die Ergebnisse fallen in statistischer Form an. Somit zeigen sich ganz klar die nützlichen Effekte und Nebenwirkungen verschiedener Dosierungen. Mit der statistischen Beurteilung lassen sich auch die Abweichungen vom erwarteten (Wunsch-)Mittelwert erfassen. In der praktischen Anwendung fallen dann noch diverse, in den Voruntersuchungen nicht bekannte, weitere Wirkungen und Nebenwirkungen an. Klinische Erfahrung und ein geeignetes Meldesystem hilfen bei der Verbesserung der Zuordnung eines Medikaments.
Jeder Mensch ist für sich ein besonderes biologisches System. Wenn es zu Störungen und Krankheiten kommt braucht es Feingefühl, Erfahrung und spezielles medizinisches Wissen damit die geeignete Therapie über die Selbstheilungstendenz hinaus erfolgreich sein kann.
Google kann helfen sich zu orientieren. In der Realität stiftet es oft unangnehme Verwirrung.
Pflanzliche Mittel haben für viele Indikationen den aus und mit der Erfahrung gewonnenen, besonderen Stellenwert.
Die modernen, chemischen und bio-technologisch entwickelten Arzneien bieten klare Vorteile und Resultate, die sonst unerreichbar sind.
Für pflanzlich oder chemisch gilt: „die Dosis macht das Gift!“
Und: „Erfahrung ist die Mutter der Therapie!“
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