Vierte Fortsetzung
Die Sonne leuchtete mit letzter Kraft, der Himmel war wolkenlos. Raymond Oggier und Ferdinand ritten von Salgesch nach Saint-Léonard zur Weinlese. Man plauderte über dies und das.
«Ich gratuliere ganz herzlichst zur bestandenen Prüfung, Herr Notar», nahm der Rebmeister das Gespräch auf und schmunzelte verschmitzt. «Jetzt haben Sie einen guten Beruf. Fehlt nur noch die richtige Frau, und Ihr Glück wäre vollkommen.»
«Ich wüsste schon, wen ich gernhabe, aber sie will nicht. Stell dir vor, sie will ins Kloster!»
Bei den Reben banden sie ihre Pferde unter den wilden Kirschbäumen fest und liessen sie im Schatten stehen. Während der Rebmeister über guten Roten und schwachen Weissen dozierte, streifte Ferdinands Blick über die Berge im Süden. Von den Maiensässen gegenüber von Sitten, wo die grossen Familien ihren Sommersitz hatten, zurück ins Rhonetal und dann in den Weingarten der Stockalper. Hier stockte sein Blick. Margaretha pflückte mit den Frauen und Mägden die Trauben.
Durch das Labyrinth der Rebstöcke schritt er auf sie zu. «Margaretha, wie ich mich freue, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?»
«Ach, der Junker Ferdinand lässt sich auch wieder einmal blicken», war die schnippische Antwort.
Ohne ihn anzusehen, arbeitete sie weiter.
«Was ist los, Gritli? Warum so unfreundlich?»
«Was soll schon sein! Du hast mich im Stich gelassen! Mich verlassen ohne ein Lebenszeichen!»
«Liebste Margaretha, ich liebe dich noch immer. Dein Bruder Bonaventura hat mir berichtet, du wollest nichts mehr von mir wissen. Du möchtest lieber ins Kloster. Komm, lass uns an den Rhonestrand gehen. Ich habe einen Korb mit Speisen und eine Flasche Wein. Beim Mittagessen wollen wir die Missverständnisse klären.»
Als die beiden gegen zwei Uhr wieder in den Rebberg zurückkamen, strahlten sie wie Neuverliebte. Vom Kloster war keine Rede mehr. Sie wollten endlich heiraten. Ferdinand brauchte wieder eine Publikationsdispens. Ein Grund, zum Domherrn Margelisch zu reiten.
«Lieber Hochwürdiger Herr, ich habe Margaretha getroffen. Sie liebt mich immer noch. Eine üble Kabale wurde von den Brüdern Stockalper angezettelt. Wir wollen heiraten. Ich liebe sie! So gewinne ich den gesellschaftlichen Einfluss zurück! So komme ich wieder an die Macht! Sie bringt mir das Geld, um die prekäre finanzielle Lage meiner Familie zu entschärfen! Wenn dies nicht gelingt, muss ich wie viele meiner Vorfahren in fremden Diensten dienen. Ich verabscheue diesen kriegerischen Beruf. Auch möchte ich noch lange leben und nicht als Held auf dem Felde der Ehre enden! Bitte besorgen Sie uns noch einmal eine Dispens.» «Ferdinand, ich freue mich, dass eure Liebe wieder blüht. Aber eine zweite Audienz in Luzern für denselben Kasus kann ich nicht mehr erwirken. Du musst jemand andern suchen. Lass mich nachdenken. Da wäre Anton Augustini, ein durchtriebener Ränkeschmied und Intrigant. Der hat noch eine Rechnung offen bei den Stockalpern. Damals 1792, als Landeshauptmann Wegener starb, wurde die Stelle des Zendenhauptmanns in Brig frei. Augustini wollte in dieses Amt. Die Stockalper versuchten es mit politischen Intrigen, Stimmenkauf und öffentlichen Provokationen zu verhindern. Es kam zu Raufereien, die in bewaffneten Scharmützeln ausmündeten und gar in der Bedrohung des Lebens von Augustinis Frau endeten. Nach beinahe zwei Jahren entschied sich die Schlacht gegen Augustini. Er wurde nicht gewählt. Bei Nacht und Nebel flüchtete er unter Begleitschutz nach Leuk. Dort sinnt er seither auf Rache.»
«Mein lieber Herr Werra, was Sie da wollen, ist ein riskantes Unterfangen», meinte Augustini in Leuk. «Aber ich will Ihnen helfen, vorausgesetzt, Sie befolgen aufs Genaueste meine Anordnungen.»
«Noch so gerne, Euer Gnaden, ich bin Euer Diener!»
«Ich reise nach Luzern und hole die Dispens. Dann organisieren wir einen Priester. Im Hause meiner Mutter in Brig soll die Trauung stattfinden. Wir locken die Jungfrau dorthin. Der Priester waltet seines Amtes, Sie vollziehen sogleich die Ehe und ihr seid Mann und Frau.»
Im April des nächsten Jahres lag die Dispens vor. Allerdings war sie beschränkt auf dreissig Tage. Die Zeit drängte. Ein Grund, bald zur Tat zu schreiten. Der Pfarrer von Leuk entledigte sich seiner Soutane und reiste, verkleidet als Landmann, in Begleitung von Augustini, Werra, dem Notar Bircher und zwei weiteren Zeugen nach Brig. Durch die treue Zofe Ludmilla benachrichtigt, traf auch Margaretha ein. «Meine Liebe, wie ich mich freue, dich zu sehen. Endlich sind wir zusammen, in zwei Stunden sind wir vermählt.»
«Ferdinand, glaube mir, ich liebe dich auch ganz fest! Aber Papa liegt im Sterben. Wenn ihm zu Ohren kommt, was wir getan haben, stirbt er auf der Stelle. Ich wäre seine Mörderin», sagte sie und verschwand.
Alle waren konsterniert, sprachlos, dann ratlos. Sie debattierten durcheinander. Aber Augustini müsste nicht Augustini sein, wenn er nicht sofort das Heft in die Hand genommen hätte.
«Meine Herren, ich habe mich geplagt. Ich bin halbkrank nach Luzern gereist. Ich habe die Dispens erwirkt. Diese läuft in neun Tagen ab. Ich habe das nicht alles für die Katze gemacht. Es muss ein zweiter Anlauf genommen werden. Ich werde ihn in die Wege leiten. Wir treffen uns in vier Tagen wieder in diesem Hause. Ziehen Sie alle Register, Werra. Diese Ehe muss zustande kommen! Wenn nicht, werden Sie in einem französischen Regiment, als Hauptmann zwar, enden.»
Die letzte Fortsetzung erscheint am 1. August 2018
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