Die Dala ist ein Wildbach im Wallis, der unter dem Rinderhorn nordöstlich von Leukerbad entspringt. Mein Vater hat mir in diesem Gewässer gelehrt, wie man von Hand Forellen fangen kann. Das Wildwasser hat sich in einem, beidseitig von steilen Felswänden begrenzten Canyon, seinen Weg in die Rhone gegraben. Die Schlucht ist kaum begehbar. Erst im alleruntersten Teil, kurz vor der Mündung, hat sich im Rhonesand ein Delta gebildet. Dort trifft man heute Sportfischer, ausgerüstet mit modernstem Fischerzeug.
Damals, im Zweiten Weltkrieg, als ich in Leuk zur Schule ging, war ich dort zusammen mit Schulkameraden oft anzutreffen. Wir hatten ein Geschick dafür entwickelt, wie von Hand, ohne Rute ohne Netz, sich Forellen fangen liessen. Reich war die Beute nicht. Drei, vier Stück pro Mal. Umso grösser war der Spass, barfuss im fliessenden Wasser, auf den Spuren Petrus tätig zu sein.
Ganz ungefährlich war das Unternehmen nicht. Das ruhig fliessende Wässerchen konnte sich innert Stunden in einen tosenden Wildbach verwandeln.
Leuk-Stadt ist wirklich eine Stadt. Das Stadtrecht erhielt Leuk schon 1256. Auffallend ist, diese Stadt hat keine schützenden Stadtmauern, keine Stadttore und keine Türme. Für Leuk war das nicht nötig. Sie wurde durch ihre privilegierte geografische Lage, durch die Natur geschützt. Im Norden das Massiv der Gemmi, im Osten der Wildbach Feschil, im Süden das Rhonetal mit dem im Mittelalter kaum begehbaren Pfynwald und im Westen der Canyon der Dala. Wer nach Leuk wollte, musste eine der drei Brücken über Rhone, Feschil oder Dala benützen. Letzterer war von besonderer strategischer Bedeutung.
Im ganzen Mittelalter kam die grösste Gefahr immer aus dem Westen. Stets hatten die Franzosen aus Savoyen Machtgelüste das Oberwallis und vor allem den Simplonpass, in Besitz zu nehmen. Der Weg dorthin führte zwangsweise über Leuk. Damit fiel der Burgschaft Leuk die Aufgabe zu, das Einfallstor über die Dala zu befestigen und zu bewachen. Die Dalaschlucht ist 70 Meter tief und an ihrer engsten Stelle bloss 15 Meter breit. Dieser Ort ist ein idealer Ort für einen Brückenschlag. Die Brücke über die Dala spielt in der Geschichte von Leuk eine bedeutende Rolle.
Im Leben eines meiner Vorfahren, dem Junker Hans Werra, spielte die Dalabrücke eine lebensentscheidende Rolle. Hans lebte Mitte des 16. Jahrhunderts, ein Mann von hohem Prestige, dem Mut und Tatkraft nachgesagt wurde. Junker von Zermatt, Hauptmann in französischen Diensten, Träger des päpstlichen Ordens vom Goldenen Sporn, Landvogt von St. Maurice, und vor allem Meier vom Zehnden Leuk. Heute wäre das der Präsident des ganzen Bezirks. Ein von jedermann bekannter Magistrat, dem Achtung und Ehre entgegengebracht wurde.
Dieser Edelmann bekam es einmal auf dem Weg nach Hause mit den Franzosen zu tun. Er wurde verfolgt. Sein Vorteil, er ritt eines der besten Schlachtrösser des Landes und vor allem, er kannte die Region wie seine Rocktasche. Es gelang ihm die Verfolger bei Salgesch zu täuschen. Diese glaubten, er hätte den Weg nach Leukerbad eingeschlagen, während er in Wirklichkeit über Varen nach Leuk spurtete. Lange konnte sein Vorsprung nicht dauern. Er musste in Kürze damit rechnen von seinen Häschern eingeholt zu werden. Nichts wie los zur Dalabrücke. Diese war wegen der drohenden Gefahr hochgezogen und schwer bewacht. Keine Chance mehr heil nach Hause zu kommen. Da half nur eines. Dem Pferd die Sporen geben und mit kühnem Sprung über die Dala setzen. Er landete mit seinem Pferd auf dem anderen Ufer. Es hatte grossen Mut und noch grösseres Glück gebraucht um unversehrt und unbeschädigt nach Hause, in den Majorshof, zu kommen.
Diese Geschichte wurde mir einmal von Sepp Guntern erzählt. Sogar er, der versierte Geschichtenerzähler, war von der Heldentat, die sich über Generationen weitererzählte, beeindruckt. Mir kam die Legende, welche sich mit der Zeit immer mehr glorifiziert hatte, suspekt vor. Es ist schon so. Je häufiger und intensiver das Erlebnis weiter erzählt wird, desto mehr Echtheit kann es beanspruchen.
Vor Kurzem stand ich wieder einmal auf der Dalabrücke. Auch wenn die Erzählung 500 Jahre zurückliegt, die Felsen, welche das Dalatal bilden, konnten sich nicht wesentlich verändert haben. Auch gibt es ausser dem schmalen Feldweg welcher von Salgesch kommt, vor der Brücke keinen Platz, um mit einem Springpferd Anlauf zu nehmen. Der Weltrekord für Weitsprung bei Pferden liegt bei achteinhalb Metern. An der engsten Stelle ist die Schlucht mehr als 12 Meter breit. Daraus folgt: Mein lieber Vorfahr kann unmöglich mit seinem Pferd über die Schlucht gesprungen sein. Trotzdem ist er gesund nach Hause gekommen.
Wie kann er wirklich über die Dala gekommen sein? Da gibt es nur eine Lösung. Der Wachtkommandant hat den hohen Herrn erkannt und seine ungemütliche Notlage erfasst. Rasch liess die Wachmannschaft die Zugbrücke hinunter. Der Hauptmann sprengte weiter. Blitzschnell wurde die Brücke wieder hochgezogen. Die alte Ordnung wieder hergestellt. Die Franzmänner hatten das Nachsehen, als sie Minuten später bei der Dala ankamen.
Spätestens hier stellt sich die Frage: Warum hat Junker Werra die Unwahrheit erzählt, als er gefragt wurde, wie er über die schwer bewachte Schlucht gekommen sei. Er hatte ja gesagt, er sei über die Schlucht gesprungen.Die Wache hatte den klaren Befehl, niemanden, aber auch wirklich niemanden, mehr über die Brücke zu lassen. Sie haben mit dem Durchlassen des Meiers einen strengen Befehl verletzt und darüber hinaus ein schweres Wachtvergehen begangen. Darauf bestand damals für Soldaten und Offiziere die Todesstrafe. Hätten sie den Befehl genau befolgt, Werra wäre in Feindeshand gefallen und mit Gewissheit getötet worden. Die Stadt hätte keinen Chef mehr gehabt und einen guten Meier verloren.
Was hätte Junker Hans tun können? Mit Augenmass und situativem Handeln musste er eine halbwegs plausible Geschichte erfinden. Damit hat er nicht nur sein Leben, sondern auch das der ganzen Wachmannschaft gerettet. Natürlich hat damals im Mittelalter jedermann gewusst, dass die Dalaschlucht nicht mit einem Ross ohne Brücke überwunden werden konnte. Alle waren froh, dass der Meier, die Dorfauoirität den Sprung in Umlauf gebracht hat. Der Ausgang des Abenteuers war für alle bestens. Alle Beteiligten, die Soldaten und der Magistrat haben situativ und mit Augenmass gehandelt. Die Stadt konnte mit ihrem geschätzten Chef weiterleben. Dem Militär ist Schmach, Schande und ein Kriegsgericht erspart geblieben.
Augenmass und situatives Handeln sollen eine Maxime sein. Eine Maxime um im herrschenden Moment das Richtige zu tun. Auch wenn damit mit der Wahrheit fragwürdig umgegangen wird.
Die Wirklichkeit aber, kennt nur die Dala. Dieses teils ruhige, teils stürmische Wässerchen von Leukerbad.
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Der Junker Hans Werra erinnert mich sehr an einen andern bewunderten Helden aus meiner Jugendzeit, den Karl May verewigt hat. Old Shatterhand mit seinem Rappen Hatititla musste sich öfters mit solchen lebensgefährlichen Sprüngen retten. Se non e Verona, è ben trovato. Immerhin zeigt das Beispiel in Leuk, dass die Regierenden damals schon Fake-News einsetzten, hier allerdings zum Wohle der Untertanen.