Wein

Vor einigen Jahren war ich von einer Schweizerbank zu einer Weindegustation eingeladen. Das Geldinstitut hatte sich für die Unterstützung einer seiner Kunden im Weingeschäft entschlossen. Sie organisierten dafür als Treuegeschenk für ihre anderen guten Kunden eine Weinprobe. Die Banker nannten das eine echte Win-Win-Situation. Wir, als normale Bankkunden wurden so, auf einem getarnten Umweg, zu einem Verkaufsanlass in französischen Rotweinen gelockt.  Der französische Weinbauer, auch ein guter Kunde der Bank anderseits, kam zu einer Gelegenheit zu zeigen was er konnte.
Es war an einem Freitagabend. Alle Gäste waren in entspannter Stimmung der Einladung gefolgt. Viele kannten sich schon von früheren ähnlichen Anlässen. Andere fanden leicht Kontakt.
In einem gemütlichen Landgasthof in der Nähe von Rapperswil fanden wir zusammen. Für den Anlass war das hintere Sälchen der Gastwirtschaft vorbereitet. Diese, für jede Wirtschaft typische Räumlichkeiten im Stil der Siebzigerjahre, stand zur Verfügung. Der Lieferant der Weine, seinen Namen habe ich vergessen, hatte diese Gaststube in ein Probelokal seiner Kellerei im Burgund umgewandelt. Offensichtlich wollten die Franzosen, bei den so wichtigen Kunden der Bank, Eindruck schinden. Die Tische waren mit Blumen geschmückt. Prospekte lagen wie zufällig liegen gelassen, überall herum. Sie gaben Auskunft über Namen, Qualität und Preis der angebotenen Ware. Eine sehr diskrete Form von Marketing. Grosse Farbfotos des Burgunds und des Weinguts schmückten die Wände. Alles war für den feierlichen Anlass bereit. Wir wähnten uns in Frankreich. Das noble Auftreten der Weinhändler gab dem Ganzen den letzten Schliff. Gewandt hatten sie sich unter die Gäste gemischt. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen meisterten sie mit Leichtigkeit. Wir hatten es mit erfahrenen Verkaufsprofis zutun. Uns etwas zu verkaufen lag ihnen fern, wurde vermeldet. Es ging lediglich darum, die französische Kultur des Weingenusses in die Schweiz zu bringen. Dass sie zur obersten Liga ihrer Branche gehörten war ohnehin klar. Man erstickte nicht in Bescheidenheit.
Die Weinprofis aus dem Burgund taten ihr bestes mit den nur deutsch, meistens sogar nur zürichdeutsch sprechenden Besucher, zurechtzukommen.
Unter den etwa dreissig Geladenen befanden sich auch drei Westschweizer. Genauer drei Genfer, die es nach Zürich verschlagen hatte. Genfer haben den Ruf sehr viel von Burgunderweinen zu verstehen. So wenigstens hörte ich sie über sich selbst rühmen, als ich noch mit ihnen in Payerne meinen Militärdienst absolvierte. Wenn Weinkenntnis zur Sprache kam, von dem ich keine Ahnung habe, hatte ich immer die gleiche Ausrede parat: «Als Enkel eines Walliser Weinbauern kenne ich nur einen Wein. Jener den wir aus unseren Reben selbst gekeltert haben!»
In der Hoffnung etwas mehr über Weine und deren Handhabung kennen zu lernen, schloss ich mich den französisch sprechenden an. Die Genfer waren unkomplizierte Männer. Es machte ihnen Spass, in der deutschen Schweiz zu arbeiten und zu leben. Nicht nur in der Romandie, auch bei uns, sind Genfer dafür bekannt, gerne das grosse Wort zu führen. Das unterliessen die drei in die deutsche Schweiz verschlagenen auch nicht.
Hier in der deutschen Schweiz, für Welsche eigentlich im Ausland, hatten sie etwas mehr Mühe als grosse Redner aufzutreten. Es gelang ihnen nicht immer, das Gespräch bei den Deutschschweizern an sich zu reissen. So waren sie froh heute, wenn auch in einer kleinen Gruppe, ihre Muttersprache sprudeln zu lassen. Ich wurde dank meiner Sprachkenntniss in der Gruppe aufgenommen.
Herr Légeret hatte Genf schon vor zwanzig Jahren verlassen. Er arbeitet und wohnt in Zürich. Seine Herkunft, die Stadt Genf, hat er nicht vergessen. Er markiert den gepflegten Westschweizer. Die elegante Sprache und die geschmackvolle Kleidung, vervollständigten die Signale seiner Abstammung. Wie aus dem Ei gepellt, etwas übergewichtig, versteht er es famos, sich in Szene zu setzen. Schon bevor wir einen Tropfen Wein getrunken hatten, zum Aperitif wurde Mineralwasser serviert, um dem Gaumen für die Verköstigung rein zu halten, trat Herr Légeret als Weinkenner auf. Er zeigte uns ein Plastikkärtchen, auf dem die Qualität aller französischen Weingüter benotet waren. Dieser kreditkartengrosse Spick unterstrich seine Expertise als Weinliebhaber. Mit seinem ganzen Gehabe hätte er ausgezeichnet als Kellermeister in einen Weinprospekt gepasst.
Der Zweite, Herr de Rivaz vertritt eine Versicherung aus Winterthur, wo er auch Wohnsitz hat. Auch er ein echter Genfer, etwas distinguierter, weniger lauthals sein Auftritt. Sein pechschwarzes Haar – ist es wohl gefärbt? – seine dunklen Augen und sein äusserst sorgfältig gepflegte Schnurrbart zeugen von einem autoritären Charakter, der es gewohnt ist, Anweisungen zu erteilen. In einem Film von Agatha Christie ginge er fraglos als Hercule Poirot durch.
Der Dritte im Bunde, Herr Chassot, machte einen stillen, intellektuellen Eindruck. Alles an ihm war unauffällig. Er sprach wenig und nur, wenn er gefragt wurde. Wenn er aber etwas sagte, dann war es sehr gepflegt. Es könnte ein Zitat von Molière gewesen sein. Das Gegenteil von dem was man ein Salonlöwe nennt. Zurückhaltend, leicht abweisend sogar, gesellte er sich zur welschen Gruppe. Ganz wohl schien er sich in seiner Haut nicht zu fühlen. Eigenartigerweise hatte er das besondere Etwas, dass Menschen sich von ihm angezogen fühlen. In seiner Umgebung fühlte ich mich sofort wohl und geborgen.
So waren wir die drei Musketiere von Alexandre Dumas, die in Wirklichkeit ja auch vier sind.
Nach ein paar Gläsern Wein boten wir eine fröhliche Runde. «Un quartier latin» eine «französischsprechende Insel» in Zürich, wie wir uns nannten. Zum Missvergnügen der Weinverkäufer brachten wir dem Anlass nicht die notwendige Seriosität entgegen. Man verzieh uns unser Benehmen, weil wir uns in der Muttersprache der Weinfirma unterhielten. Wir konnten uns nicht zurückhalten. Wir mussten uns über die Fachausdrücke der Degusteure mokieren. Auf Französisch versteht sich. Die Deutschschweizer nahmen den Weinunterricht, im Gegensatz zu uns, tierisch ernst. Die strafenden Blicke dieser Musterschüler wehrten wir mit süffisanter Ignoranz ab. Das zeugte nicht gerade von guter Erziehung, gab dem Anlass immerhin eine gewisse Würze. Wir waren das Salz in der Suppe.
Fünf Sorten roten Weins wurden präsentiert. Der Preis pro Flasche lag zwischen 21 und 130 Schweizerfranken. Jeder Teilnehmer hatte fünf Gläser vor sich aufgereiht stehen.
Vor dem ersten Schluck und damit zur ersten Begutachtung wurden wir darüber unterrichtet wie ein Wein richtig gekostet wir. Wir lernten die Anatomie der Mundhöhle und des Nasenrachenraums mit den dort befindlichen Geschmacks- und Geruchsnerven kennen. Vor allem wurde uns ein völlig neues Vokabular unterrichtet. Ist der Wein klar, glanzklar oder hell? Ist er etwa trüb, milchig, flockig oder wolkig? Mit der Nase kann man erkennen ob der Wein jung, sauber, reif oder säurebetont ist. Einmal im Mund wird Struktur, Geschmack und Körper des Weines erkannt. Er muss ausgeglichen sein und einen guten Abgang haben. Viel zu kompliziert für einen Laien! Entweder mundet mir der Wein oder er mundet nicht.

Mit dieser Aussage hatte ich alle drei Genfer gegen mich. Wein ist nicht Wein. Wein ist Kultur. Wein hat Kultusstatus. Wein muss sorgfältig gekostet werden. Wein trinken ist ein Ritual. Das Glas muss geschwenkt werden, die Nase ist das bessere Organ beim Beurteilen als der Mund. Schlürfen muss man den Wein. Der Wein muss über die Zunge rollen. «So kann ich nicht nur den Jahrgang, sondern auch die Lage des Châteaus erkennen», meinte Herr Légeret.  Mit so viel Wissen übergossen stand ich ziemlich einsam, ja blöde da.
Da stachelte mich der Schalk. Mit des Weines Hochgenuss stieg die Stimmung. Inzwischen waren alle fünf Gläser mit fünf verschiedenen Burgunder gefüllt. Sie standen immer noch in Reih und Glied. Links der Preisgünstigste im Angebot, ganz rechts der Teuerste.
In einem unbeobachteten Augenblick wechselte ich zwei Gläser des Genfer Weinkenners Légeret aus. Links stand jetzt die teuerste Sorte, rechts die Billigste. Vorerst liess ich den Debatten über Geruch und Geschmack der Weine weiter  ihren Lauf. Als sich die Wortgefechte etwas legten, forderte ich Herrn Légeret den Weinkenner auf, noch einmal die beiden extremsten Weine zu überprüfen. Ich sei eigentlich nicht überzeugt, ob sich der grosse Preisunterschied rechtfertige. Das versetzte Légeret in Positur. Nach fachmännischem Ritual, schwenken, schmecken, ausspucken, war sein Urteil klar. Der beste Wein ist und bleibt der Wein im Glas ganz rechts! Die feige Auswechselaktion wollte ich für mich behalten. Herr Chassot hatte meine Gemeinheit offenbar bemerkt. Als sportlicher Spieler schmunzelt er wortlos hinüber und kniff sein linkes Auge zu.
Für mich war der Ulk eine Lehre. Das wichtigste Argument bei der Wahl eines guten Tropfens ist zweifelsohne immer der Preis, die geschmackvolle Etikette und der professionelle Kommentar eines selbsternannten Experten.
Wir becherten noch eine geraume Weile auf Kosten der gastgebenden Winzer. Es gelang, bis zum Ausklang des fröhlichen Zusammenseins, die Irreführung von Herrn Légerets geheim zu halten.
Auf dem Heimweg ging es mir noch einmal durch den Kopf. Auf die Verpackung kommt es an. Dieser Lehrsatz gilt für viele Bereiche unseres Lebens.

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