Mein Vater gehörte zu den wenigen Menschen, denen es gelungen ist, seine ihm innewohnenden, angeborenen Talente von Anfang an zu nutzen. In seinem Beruf konnte er sie bis in die letzte Ecke seiner Seele ausleben. Er war der geborene Hotelier und ein begabter Gastgeber in seinem Restaurant.
In jungen Jahren schon konnte er, als er in Holland im Hotel des Indes arbeitete, die Verlobungsfeier und später auch das feierliche Dinner zur Hochzeit des Königspaars Juliana und Prinz Bernhard von Oranien – Nassau organisieren und durchführen. Die Grand Hotels der Welt waren seine Wirkungsstätten.
Mein Bruder und ich kamen zuhause einiges von seinem Beruf ab. Den Tischsitten wurde sehr viel Bedeutung beigemessen. Uns wurde beigebracht, wie man korrekt am Tisch sitzt und wie Messer und Gabel zu handhaben sind. Beim Tischdecken kam es auf den Millimeter an, wenn es um die Lage des Löffels oder den Standort des Weinglases ging.
Die Entschädigung für diesen Drill waren seinen Hotelgeschichten, die er oft und gerne zum Besten gab. Hinter vorgehaltener Hand machten wir Kinder uns über das Vokabular, welches in der Gestaltung der Menüs verwendet wurde, lustig. Wir mokierten uns oft über die uns völlig fremden Wörter. «Charlotte russe, Beefsteak Tartare, Boeuf Stroganoff, Entrecôte Rossini, Wienerschnitzel…» und viele weitere unbekannte Begriffe. Unser Wissen hatten wir aus zwei Quellen. Da waren die Menükarten, welche mein Vater täglich von der Arbeit nach Hause brachte. Diese Zeugnisse seiner Arbeit lagen ihm sehr am Herzen. Sorgsam trug er sie zu einer Sammlung zusammen. Seine individuelle Art, ein Tagebuch zu führen. Die zweite Quelle waren seine Geschichten, echte Begebenheiten, welche er uns oft nach dem Dessert unserer Mahlzeiten zuhause anvertraute.
Ich erinnere mich, wie er über die Entstehung der Dessertkreation «Pêche Melba» des berühmten Kochs Auguste Escoffier, berichtete. Für mich handelte es sich dabei zwar um gekochte Pfirsiche an Vanilleeis. Dass es eine weltberühmte Speise war, davon war bei mir nie die Rede.
Es soll sich Ende des 19. Jahrhunderts in London abgespielt haben. Nellie Melba, eine gefeierte Sopranistin hatte damals am Royal Opera House ihren Auftritt. Nach der Aufführung dinierte sie im Restaurant des Hotel Ritz. Dort besuchte sie Escoffier in seiner Küche. In ihrerexaltierten Art stürmte sie hinein, warf die Arme in die Höhe und rief: «Auguste, Sie sind ein Genie»! Dabei stiess sie eine Platte mit gekochten Pfirsichen um. Einige davon kollerten in einen Topf mit Vanilleeis. Sie aber umarmte den Koch. Für Escoffier war dieser peinliche Zwischenfall der Anstoss für ein neues Dessert. «Pêche Melba», eine Nachspeise die ihren Siegeszug durch die Restaurants der Reichen und Schönen der westlichen Welt zog.
Diese Episode fiel mir vor ein paar Wochen wieder ein. Mit ein paar Freunden war ich damit beschäftigt im Zunfthaus «Zur Waag» ein Filet Wellington zu verspeisen. Arthur Wellesly, erster Duke of Wellington war ein General und der grosse Widersacher von Napoleon gewesen. Auch der Name Wellington wurde für eine Speise in den grossen Restaurants verwendet. Wellington war es, der bei Waterloo nicht nur die Armee Bonapartes zerschlagen hatte. Er hat den Kaiser im übertragenen Sinn das Genick gebrochen und seinen Untergang eingeleitet. Dieser General liebte es, gut zu speisen. So pflegte er nach jeder gewonnenen Schlacht mit seinem Stab feierlich zu tafeln. Nach der Schlacht von Vitoria wurde ein in Teig serviertes Stück Fleisch serviert. Wahrscheinlich war es Pferdefleisch. Man pflegte die in der Schlacht gefallenen Tiere zu schlachten. Ihr Fleisch kam auf den Tisch. Wellington mundete das Gericht so, dass er es zu seiner Leibspeise ernannte: «Filet Wellington».
Unser Mahl in der Waag wurde abschliessend mit in Orangensaft flambierten, hauchdünnen Pfannkuchen abgeschlossen. Natürlich rankt um die Entstehung dieser süssen Nachspeise auch eine Geschichte.
Diese fand auch am Ende des 19. Jahrhunderts statt. Der britische Kronprinz und spätere König Eduard VII. war in Begleitung einer koketten Dame im «Café de Paris» in Monte Carlo zu einem Silvesterdinner geladen. Der 14-jährige Kochlehrling Henri Charpentier bereitete am Tisch Pfannkuchen vor. Er war etwas nervös vor so hohen Gästen zu kochen. Als er die Sauce bereitete, stiess er in seiner Aufgeregtheit die Likörflasche um. Das Dessert fing Feuer. Der Lehrling liess sich nichts anmerken und servierte Eduard die flambierten Crêpes. Dieser war begeistert und benannte die Kreation nach seiner eleganten Begleitung, Suzette. Ungefähr 170 Jahre später wurde uns in der Waag «Crêpes Suzette» aufgedient.
Wie es oft im Leben so geht, eine Panne oder ein Zufall führte ungewollt zu einem ganz neuen Produkt. Der Beispiele gibt es viele. Der schottische Bakteriologe und Mediziner Alexander Fleming vergass 1928 das Fenster in seinem Labor zu schliessen, bevor er in die Ferien fuhr. So trug der Wind Pilzsporen herein. Diese gaben den Eitererregern in den Petrischalen den Todesstoss. Einer der wichtigsten Arzneiwirkstoffen des letzten Jahrhunderts war durch reinen Zufall entdeckt, das Penicillin.
Oder der Autopneu. Gummi ist ein äusserst empfindlicher Rohstoff. Bei Wärme schmilzt er. In der der Kälte wird er brüchig. Bis Charles Nelson Goodyear 1839 ungewollt ein Stück Gummi-Schwefel-Gemisch auf eine heisse Herdplatte fallen liess und damit die Vulkanisation des Kautschuks erfand. Die Grundlage für die heutige weltweit operierende Kautschukindustrie war gelegt.
Eine Panne? Ein Zufall?
Der Zufall geht Wege, da kommt die Absicht gar nicht hin!
Viele Entdeckungen und Erfindungen sind unabsichtlich entstanden: Der Kugelschreiber, die Antihaftschicht Teflon, das Post-it-Zettelchen, der Riri-Reisverschluss, der Mikrowellenofen, und viele andere Bequemlichkeiten des Alltags verdanken ihr Dasein einer Panne oder einem Zufall.
Kommen diese alltäglichen Phrasen Ihnen nicht auch bekannt vor?
«Zufällig ist der Papierkorb umgefallen, und das Gesuchte rollte heraus.»
«Zufällig ist mir eine Katze von links kommend über den Weg gelaufen, als ich das Auto starten wollte.»
«Zufällig bin ich auf einen Artikel gestossen, als ich im Lexikon schmökerte.»
«Zufällig habe ich Egon im Kino getroffen. Es ist absoluter Zufall, dass wir uns nach so vielen Jahren wieder begegnet sind.»
Ganz zufällig kommt der Zufall unangemeldet und ungefragt bei uns vorbei. Und macht etwas mit uns. Wir sind dem ausgeliefert. Da passiert etwas ohne unser Zutun – rein zufällig. Eine vernünftige Erklärung gibt es dafür nicht.
Wirklich nicht?
Für mich ist der Zufall nicht zufällig. Es muss eine Erklärung geben. Da steckt etwas dahinter. Irgendeine versteckte Wahrheit fällt uns zu. Da fällt etwas zu, weil es in diesem Moment perfekt passt. Weil die Sache reif geworden ist. Reif, damit sie so und nicht anders abläuft. Obschon es jede Menge Alternativen dazu gibt.
Das kann einfach nicht ohne erkennbare Ursache sein. Da muss es einen inneren, kausalen Zusammenhang geben.
Könnte es dafür nicht eine wundersame unbekannte Gesetzmässigkeit geben?
Penizillin wurde entdeckt, weil die Zeit dafür reif war.
Die umgefallene Likörflasche setzte das Dessert in Brand, weil eine neue Kreation in der Luft lag.
Gummi, dieser widerspenstige Rohstoff musste durch die Vulkanisierung verwendbar gemacht werden.
Die besten Dinge verdanken wir, gestaltet nach einem unbekannten und unsichtbaren Plan, dem Zufall.
Es fällt zu!
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