Präzision
Der Salondampfer «URI» ist ein richtiger Oldtimer. Seit 1901 fährt er, majestätisch Spuren hinterlassend , auf dem Vierwaldstättersee. Alle Raddampfer, die von der Firma Sulzer hergestellt wurden, erlauben dem Passagier während der Fahrt einen Blick in den Maschinenraum. Vor ein paar Wochen leistete ich mir wieder einmal einen Ausflug von Luzern nach Flüelen. Lange stand ich im Unterdeck und beobachtete die Arbeit der Kolben und Stangen. Klassischer Maschinenbau. Blitzblank geputzt werden die Pleuelstangen von der Dampfmaschine angetrieben. Die Radschaufeln sind durch eine Scheibe abgetrennt, sichtbar. Sie erzeugen eine starke Gischt und treiben das Gefährt durchs Wasser. Die Zusammenarbeit der Kraftübertragung ist eine Pracht. Eine Sinfonie der Ingenieurkunst. Seit bald 120 Jahren funktioniert dieser Schiffsantrieb mit einer Präzision im Hundertstelbereich. Wahrhaftig ein Wunderwerk des Maschinenbaus und der helvetischen Sorgfältigkeit.
Wer an Genauigkeit und zur gleichen Zeit an die Schweiz denkt, sieht automatisch Schweizeruhren vor seinem geistigen Auge. Vor einigen Jahren hatte ich die Möglichkeit den «Mount Everest» der Uhrmacherkunst zu erklimmen. Das war in Schaffhausen bei der Uhrenfirma IWC. Dort traf ich einen Rhabilleur der die «Grande Complication» zusammenbaute. Das ist ein komplexes mechanisches Uhrwerk einer Armbanduhr. Erwiesen ein kompliziertes Gebilde, welches neben der Zeit, einen ewiger Kalender, einen Chronographen, diverse Schlagwerke, einen mechanischer Wecker mit automatischer Nachtabschaltung und ein Astrolabium beinhaltet. Letzteres ist eine astronomische Abbildung des sich drehenden Nachthimmels. Das Uhrwerk wird aus über 659 Teilen zusammenbebaut. Der Uhrmacher benötigt hierfür sechs Wochen! Kaum jemand trägt diese mechanische Präzisionsarbeit am Arm. Die Uhr kostet rund 250’000 CHF. Davon werden 50 im Jahr hergestellt und sind stets ausverkauft. Von jedem Modell wird eine limitierte Auflage von 250 Stück produziert. Es ist eben kein Gebrauchsgegenstand, eher ein Kunstwerk. Die «Grande Complication» vereint grosse Uhrmacherkunst mit der Schönheit einer vollendenden Gestaltung. Dass hier Exaktheit gefragt ist, versteht jedermann. Besonders pikant finde ich, dass man neben der Uhr die Bedienungsanleitung, ein Handbuch von 100 Seiten, für 170 Franken dazu kaufen muss.
Meine erste Bekanntschaft mit der Präzision machte ich als ich bei Hofroche als Laborant arbeitete. Auch die Dosierung der Ausgangstoffe bei der Herstellung eines neuen Moleküls bedarf einer präzisen Arbeitsweise. Das Gelingen der Synthese und die Explosion des Ansatzes wohnen sehr nahe beieinander. Uns Schweizer begegnet die Präzision auf Schritt und Tritt, sie wird uns mit der Muttermilch eingegeben. Bei der Durchsicht der Fabrikationswirtschaft in unserem Land fällt auf, dass vor allem Spezialitäten hergestellt werden, welche eine hohe Genauigkeit erfordern. Autos, Fernsehgeräte und andere Volumenprodukte werden importiert. Unsere Volkswirtschaft ist mit Besonderheiten, die sich gut exportieren lassen, gross und erfolgreich geworden.
Schon in der Primarschule wurde unserer Generation Genauigkeit eingetrichtert. Beim Schönschreiben im Aufsatzheft. Dort lag die Präzision in der vorgeschriebenen Gestaltung des Titels und dessen Unterstreichung mit dem Lineal. Kaligraphie war ein Schulfach wie Mathematik oder Französisch. Zu Hause mussten die Kleider beim Zubettgehen sauber ausgerichtet auf dem Stuhl neben dem Bett angeordnet werden. Die Schuhe, ganz präzis ausgerichtet darunter.
Die Schweiz gilt heute als eines der begehrtesten Länder der Welt. Hier leben und arbeiten zu dürfen ist ein Privileg. Diese Sonderstellung unseres Staates ist auch eine Folge des Lebensprinzips «Präzision». Wie alles im Leben, hat auch Präzision seinen Preis. Präzision ist teuer. Präzision setzt ein gutes Bildungssystem für alle voraus. Präzision macht nicht nur Freude. Es kann ganz schön belastend sein. Ihr wohnt auch eine grosse Gefahr inne. «So gut wie möglich» heisst die Versuchung bei der Entwicklung eines Produktes. Wer in diese Falle tritt, konstruiert zu viele unnötige Besonderheiten und verursacht damit unnötig hohe Herstellungskosten. Der Ausweg aus dieser Sackgasse heisst so «so gut wie nötig.» Das macht den guten Ingenieur aus, die richtige Präzision so anzuwenden, wo sie gerade nötig ist. Nicht weniger und auch nicht mehr. Eine Fertigkeit welches Können, Risikofreude und Übernahme von Verantwortung voraussetzt. Offenbar ist das in der Schweiz recht gut gelungen. Warum eigentlich? Es ist wegen der Kleinheit unseres Staates, glaube ich. Wir haben in unserem Land keinen Platz für grossflächige Fabrik- und Energieanlagen. Wir sind darauf angewiesen Produkte zu verkaufen, die wenig Gewicht haben und einen hohen Preis erzielen. Das ist ein Vorteil für den Export, auf den wir unseren Lebensstandard aufgebaut haben.
Und es geht weiter so. Die Hochblüte des Maschinenbaus ist zwar vorbei. Immer mehr Menschen verdienen ihr Brot im Dienstleistungsgewerbe. Glücklicherweise ist auch dort Präzision mit hoher Priorität gefragt. Ein Komma an einer falschen Stelle in einer Zeile eines Softwareprogramms kann das gesamte Projekt zum Absturz bringen.
Die Kleider werden heute vor dem Schlafengehen irgendwo im Zimmer liegen gelassen. Die Schüler stehen nicht mehr von ihren Sitzen auf, wenn der Lehrer das Klassenzimmer betritt. Sie leiden auch nicht mehr unter der Fuchtel des Schönschreibeunterrichts. Dafür lernen sie selbstständig zu denken und zu handeln. Der «Präzision- Virus» ist damit noch lange nicht ausgerottet. Wenn es darauf ankommt, herrscht Genauigkeit und Präzision. Das kann beim Bau und beim Programmieren von Robotern sein. Oder bei der Planung einer Weltreise. Oder beim Anlegen eines Gemüsegartens.
Genauigkeit ist gefragter denn je. Tragen wir dem Sorge. Beharren wir auf gute Arbeit, gute Qualität und zuverlässige Produkte.
So präzis wie nötig!
Wer weiss, vielleicht zieht die «URI» auch im Jahr 2119 noch ihre Kreise auf dem See. Nur sind dann die Ventile elektronisch gesteuert und mittels künstlicher Intelligenz programmiert.
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