Noch dreizehn Knoten in der Schnur.
Nach dem Krieg hatte mein Vater in Freiburg i.Ue. ein Hotel gepachtet. Mein Bruder und ich hatten dort ein eigenes Zimmer. Vierzehn Tage vor Sommerferienbeginn hing eine Schnur mit 14 Knoten über mein Bett. Mit jedem Tag, an dem die Ferien näher rückten, wurde ein Stek gelöst. So sah meine erste Agenda aus. Sie zeigte an, wann mein Bruder Robert und ich unsere Ferienreise nach Leuk antreten werden. Wir zwei hatten während des Krieges, als unsere Onkel und mein Vater Aktivdienst leisteten, die Freiheit der Jugend in Leuk kennen und schätzen gelernt. Seit wir in Freiburg wohnten, war es eine beschlossene Sache, an Ostern und im Sommer bei Grand’maman den Urlaub zu verbringen. Vom ersten Ferientag bis zum letzten genossen wir die grosse Unabhängigkeit im Wallis.
Die Organisation des ganzen Projekts lag in meinen Händen. Zuerst wurde die Schnur geknotet. Danach schrieb ich einen Brief nach Leuk an meine Grossmutter. Wir würden uns freuen, auch dieses Jahr wieder die freie Schulzeit in Leuk zu verbringen. Eintreffdatum und Ankunftszeit wurden gemeldet. Mein Vater legte dem Schreiben noch zwei Hundertfrankennoten bei. Ein Beitrag an die Rente seiner Mutter.
Vorher hatte ich bereits am Bahnhof den Fahrplan «Freiburg – Lausanne – Leuk» herausschreiben lassen. Mit diesen Unterlagen gewappnet, wurde der Plan beim Mittagessen (der einzige Moment, in welchem die ganze Familie zusammen war) besprochen und bewilligt. Einige Tage später traf die Antwort aus Leuk ein. Sie war wie immer positiv. Das Unterfangen konnte ausgeführt werden. Ab nun waren die notwendigen Arbeiten bis zum Reisetag nur noch Routine: Abschlusshausaufgaben erledigen. Das Gepäck vorbereiten. Diese Fracht wurde zwei Tage vor Abreise per Bahn nach Leuk verschickt. Um Taschengeld betteln. Die Kleider für die Reise bereitlegen. Und was noch so für die Ferien nötig war, in einen Rucksack verpacken. Reiseproviant ja nicht vergessen.
Am Abend vor der Abreise kontrollierte Mama die wichtigsten Faktoren. Die zwei Fahrkarten zum halben Preis, dritter Klasse, hatte ich schon gekauft. Alles war bereit, keine Knoten mehr in der Schnur.
Abreise.
Das war ein echtes Ereignis. Zwei Knaben, dreizehn und acht Jahre alt, waren allein unterwegs ins Wallis. Wir hatten einen prächtigen Sommertag erwischt. Die Landschaft zog an uns vorbei. Der Kanton Freiburg und die Waadt präsentierten sich im Sonntagskleid.
Oft wurden wir von erwachsenen Fahrgästen angesprochen. Wirkliche Dialoge entwickelten sich nicht. Die Erwachsenen wunderten sich, dass man zwei so kleine Jungen allein reisen liess. Von dieser versteckten Kritik an die Sorglosigkeit unserer Eltern merkten wir damals nichts. Wir genossen das Abenteuer. Wir unterhielten uns prächtig. Auf meinem Taschenschach, wo die Figuren auf dem Brett magnetisch fixiert waren, vertrieben wir uns die Zeit.
Kurz vor Lausanne beschlossen wir, einen Zug zu überspringen. Wir wollten in Ouchy die Schwäne füttern. Auf dem Plakatfahrplan im Bahnhof Lausanne hatte ich die neuen Reisezeiten herausgelesen und notiert. Alles klappte. Ein Teil unseres Mittagessens wurde den Enten und Schwänen gefüttert. Anderthalb Stunden später sassen wir wieder in der Holzklasse des Schnellzugs nach Brig. Als wir in Leuk-Susten den Zug verliessen, war zu unserer Überraschung niemand von der Familie anwesend. Onkel Ferdi hätte uns abholen sollen. Es war mir nicht klar, warum er nicht gespürt hatte, dass wir mit dem nächsten Zug das Rhonetal bereisen würden. An seiner Stelle wurden wir vom Posthalter Dupont eingefangen. Er überschüttete uns mit Fragen und mit Vorwürfen. Er buxierte uns zusammen mit seinen Postsäcken in die Leuk-Leukerbad Bahn. Auf der Bergfahrt erklärte uns Herr Dupont, dass wir als verloren galten. Das ganze Städtchen sei in Aufruhr. Die Enkel des Barons seien auf der Reise ins Wallis verloren gegangen. Wir verstanden die Aufregung nicht. Wir hätten doch bloss in Lausanne einen Zug übersprungen, um bei dem schönen Wetter den Genfersee zu besuchen. «Das geht so nicht! Wenn ihr schon ohne Begleitung von Erwachsenen reist, müsst ihr euch an die abgemachten Zeiten halten», so Dupont. Für mich war es das Selbstverständlichste der Welt. Wer nicht zur genannten Zeit ankommt, hat einen Grund und wird mit dem nächsten Zug eintreffen. Ist doch kein Problem.
Mit der Zeit wurde mir klar, da liegt grosse Schelte in der Luft. Etwas bange näherten wir uns dem Haus der Grossmutter. Sie stand in der Küche am Herd. Als ich vorsichtig auf sie zu kam, klatschte sie fröhlich in die Hände. «Da seid ihr ja, ihr zwei Vagabunden. Gut ist euch nichts passiert.» Liebevolle Umarmung, Küsschen links und Küsschen rechts. Wie wenn nichts geschehen wäre.
Onkel Ferdi fand unsere Eskapaden gar nicht lustig. Er sei sehr beunruhigt gewesen, als wir nicht zur gemeldeten Zeit in den Susten aus dem Zug gestiegen seien.
Beim Nachtessen gelang es mir, alles zu erklären. Ich berichtete von der schönen Fahrt durchs Freiburgerland. Von dem strahlenden Wetter. Von dem berechtigten Wunsch den «Lac Léman» mit den «Dents du Midi» im Hintergrund wieder einmal zu sehen. Es war mir gelungen, die Tischrunde mit meiner Begeisterung für unsere Entscheidung, die Reise zu verlängern, zu überzeugen. Onkel Hans machte mit der Bemerkung «für mich seid ihr mir vielleicht etwas zu selbständig» dem Drama ein Ende. Damit nahmen wundervolle Ferien in Leuk ihren Anfang.
PS: Wie ich das heute so schreibe, verstehe ich die Aufregung, die wir verursacht hatten. Damals gab es keine Smartphones. Wahrscheinlich würden heutige Eltern eine solche Expedition gar nicht zulassen. Jedenfalls wäre ein ständiger Telefonkontakt von Umsteigestation zu Umsteigestation nicht nur erwünscht, sondern geradezu befohlen worden.
In unserer Jugend gab es mehr Freiheit. Die Eltern bauten auf ihre Erziehung. Sie hatte von Jung an an der Eigenverantwortung ihres Nachwuchses gearbeitet.
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