In Leuk sass Grand’maman in ihren Louis XVI-Sessel beim Café noir. Auf dem ovalen Tischchen dampfte neben einer Schale Würfelzucker eine Tasse Kaffee. «Kaffee muss süss sein wie die Liebe, heiss wie die Hölle und schwarz wie die Nacht». Das war die Definition ihres Café noir. Dazu gehörte ein Canard. Die elegante Art, wie die Dame von Welt Brandwein zu sich nimmt. Ein Würfelzucker wird mit dem Feuerwasser getränkt und anschliessend auf der Zunge genussvoll zerlassen. Einfach köstlich. Dazu zierten ein kleines Schnapsglas und eine Flasche Marc aus Onkel Ferdis Keller das Stillleben. Ein Päckchen «Laurent vert», die halbrunde elegante Damenzigarette aus Ägypten, vervollständigte die Installation. Die Sonne stand schon tief. Ihre Strahlen brachten die Gläser auf dem Tisch zum Glitzern. Diese Ruhepause nach den Arbeiten des Vormittags, Kaffee, Schnaps und Zigarette liess sich meine Grossmutter nie entgehen. Es war ein Ritual, das zu ihrem Leben gehörte, wie das Zähneputzen am Morgen oder das Nachtgebet am Abend. Diese «kreative Pause» wie Grand’maman diese Gewohnheit nannte, liess sie nie aus. Täglich, ob Werktag oder Sonntag, wurde diesem Kult gehuldigt. In der Hand hielt sie einen Brief ihres Schwiegersohns Marcel aus Neuenburg. Regelmässig wurden auf diesem Weg die Familiennachrichten ausgetauscht und die Altersvorsorge geregelt. Neben dem Kaffeegeschirr lagen zwei Hundertfrankenbanknoten auf dem Tisch. Sie waren dem Schreiben beigefügt. Die Kinder, meine Onkel und Tanten, hatten vereinbart, auf diese unkomplizierte Art den Haushalt in Leuk über Wasser zu halten.
In Neuenburg stand Onkel Marcel im Labor seiner Apotheke. Er war dabei, eine stark verdünnte Lösung für homöopathische Verwendung herzustellen. Messkolben und Pipetten lagen bereit. Sorgfältig wurde die Arbeit ausgeführt. Mehr als die Hälfte des Tages verbrachte er hier, im Arzneimittelgeschäft, welches sein Vater im letzten Jahrhundert gegründet hatte. Er liebte seinen Beruf, er betreute mit Fürsorge seine Kunden. Die Pharmacie de l’Orangerie war eine Institution in der Stadt. Es war das Geschäft, wo die Nachbehandlung der ärztlichen Kunst ihre Fortsetzung fand. Neben den auf Rezepten verschriebenen Arzneien standen den Kunden viele Produkte aus dem eigenen Betrieb zum Verkauf. Pillen, Salben, Tabletten und Tinkturen der Pflanzenheilkunde und der Homöopathie, von Marcel persönlich hergestellt, fanden reges Interesse. Die Patienten fanden nicht nur die notwendige Medizin für die Heilung ihrer Gebrechen. Sie wurden kompetent beraten. Für jeden hatte er ein aufmunterndes Wort, erteilte er Ratschläge, tauschte er mit höchster Diskretion Nachrichten und Neuigkeiten aus. Diese Apotheke gehörte zur Stadt wie die Uhrenhochschule und der Jachthafen. Sie war die gesellschaftliche Drehscheibe des Lebens von Neuchâtel.
Als ich abends in die Küche trat, hatte Stephanie eben den Zvieri genossen. Bei Brot mit Butter und selbsthergestellter Aprikosenkonfitüre und Tee berichtete Grand’maman vom Brief aus Neuenburg. «Herr Marcel braucht wilden Thymian, Knabenkraut und Seidelbast». Stephanie nahm die Bestellung mit einem Kopfnicken entgegen und murmelte: «Nächste Woche auf die Post». Stephanie vertrat das Symbol des klassischen Hutzelweibchens aus dem Wallis. Einzig die Tabakpfeife fehlte. Sie war immer schwarz gekleidet. Sie trug immer ein Kopftuch. Böse Zungen behaupteten, sie hätte zur Ersten Kommunion den ersten schwarzen Rock erhalten. Zur Firmung kam der Zweite darüber und später, als sie volljährig wurde, der Dritte. Stephanie kam und ging in unserem Haushalt ein und aus. Sie hatte die Gabe, immer anwesend zu sein, wenn sie gebraucht wurde. Sie ging jedermann zur Hand, wenn es um das Vorbereiten und Servieren der Speisen ging. Sie kam geräuschlos und verschwand wieder ungehört. Die treue Seele der Familie. Damals schon eine selbstständige Frau voller Tatendrang und Weisheit.
Wenn sie da war, gesellte ich mich gerne zu ihr an den Küchentisch. Wir verstanden uns gut, und sie hatte mich ins Herz geschlossen. Ich vernahm so, was in Leuk passierte. Ihre Erzählungen waren von Lebensweisheiten durchzogen. «Hartes Brot ist nicht hart, kein Brot ist hart». Stephanie verkehrte in verschiedenen Familien. Sie half in den Reben. Assistierte der Hebamme. Ging einkaufen für die Herrschaft. Brachte Briefe auf die Post. Und sie sammelte Heilkräuter. Da war sie so richtig in ihrem Element. Da war sie zuhause. Da war sie die Expertin der Stadt. Niemand kannte die medizinische Wirkung der Stauden und Gräser besser als sie. Ein Erbe der Familie Ambühl, der sie angehörte. Sie kannte alle Heilpflanzen und wusste von allen deren Standort. Bisweilen lagen sie und der Stadtarzt Dr. Bayard sich in den Haaren. Ihm gefiel es nicht, dass jemand ihm ins Handwerk pfuschte. Dabei wollte Stephanie nur helfen, Schmerzen lindern, den Heilungsprozess beschleunigen. Über die Wirksamkeit der Naturstoffe auf den menschlichen Körper wusste sie Bescheid. Ein junger Vetter von ihr hatte einmal den Arm gebrochen und lief mit einem Gips herum. Nach drei Wochen entfernte Stephanie den Gipsverband, tastete die Bruchstelle ab, rieb dort eine von ihr selbst hergestellten Salbe ein und befahl dem Jungen den Arm nicht zu gebrauchen und ihn tagsüber immer von der Sonne bestrahlen zu lassen. Zwei Wochen später ging der Neffe wieder seiner Arbeit nach. (Irgendwie verstehe ich heute, dass das dem Doktor nicht gefiel).
Onkel Marcel hatte einmal beim einem Ferienbesuch in Leuk Stephanie und ihr Wissen über Heilkräuter kennen gelernt. Er war sehr beeindruckt von ihren Kenntnissen. Sie wurde zur Lieferantin der Pharmacie de l’Orangerie für Heilpflanzen. Leider beherrschte Onkel Marcel die deutsche Sprache sehr schlecht. In seinen regelmässigen Briefen nach Leuk brachte er seine Bestellung ein. Grand’maman übersetzte sie mündlich, wenn Stephanie in der Nähe war. Innert vierzehn Tagen waren die Pflanzen auf der Post. Eine Woche später erhielt Stephanie die Bezahlung für ihre Bemühungen in einem Briefumschlag per Post. Der Begleitbrief wurde wiederum in unserer Küche auf Deutsch übersetzt vorgelesen. So funktionierte das erste Exportgeschäft der KMU Stephanie. Sehr unkompliziert. Keine Buchhaltung, keine Geschäftskorrespondenz. Alles auf Vertrauensbasis. Es wurde Wort gehalten.
Das Wirtschaftsleben in der kleinen Stadt war, verglichen mit heute, sehr einfach und trotzdem effizient. Alle waren für alle da. Wenn Not am Mann war, wurde geholfen. Für alle anfallenden Arbeiten gab es Spezialisten. Einer konnte besonders gut Trockenmauern in den Reben bauen. Die meisten verstanden etwas vom Weinbau. Jede Hausfrau wusste die beste Marmelade zu kochen und die leckersten Hauswürstchen herzustellen. Sogar die Katze hatte in dieser Wirtschaft ihren Platz und ihren Auftrag. Sie entsorgte die Ratten und Mäuse. Die Ökonomie funktionierte. Jeder lieferte einen Beitrag zum Zusammenleben im Städtchen. Bargeld brauchte es wenig. Ein Handschlag galt mehr als der schönste Vertrag des besten Notars. Es brauchte keine schriftlichen Bestätigungen. Das Wort galt. Und man stand zum Wort. Meistens. Wer etwas Unlauteres tat, wurde vom Familienvorstand in die Schranken gewiesen.
Bei uns war das unbestritten Grand’maman. Sie war die unangefochtene Chefin im Haus. Ihre Anweisungen wurden ohne Widerrede, ohne Diskussion und ohne Murren ausgeführt. Es gab keine Missverständnisse oder Ausreden, denn sie war klar. Sie hatte einfache Prinzipien. Die galten mehr als die Zehn Gebote Gottes. Und sie nutzte ihre Vormachtstellung nie aus. Sie war die natürliche Autorität.
Schöne heile Welt, damals?
Natürlich nicht.
Der Mensch von damals war ähnlich veranlagt wie heute. Viele nahmen es nicht so genau mit Anstand, Fairness, Wahrhaftigkeit, Rücksichtnahme und Treue. Wie heute eben auch. Nur eines war damals besser.
Es herrschte mehr Freiheit.
Alle hatten mehr persönlichen Gestaltungsraum. Dazu gesellte sich eine selbstverständliche Toleranz. Über kleine Ungereimtheiten ging man hinweg. Drückte ein Auge zu. Liess fünf gerade sein.
Das Leben war weniger kompliziert als heute. Das Allermeiste spielte sich in Leuk selbst ab. Nur ganz wenige Bewohner verliessen ab und zu die Stadt. Abends waren alle wieder zuhause. Das Exportgeschäft von Stephanie war eine grosse Sache, eine Ausnahme. Es passte gar nicht so richtig in diese Kleinräumigkeit hinein. Es kam daher wie heute ein Handelsvertrag mit Dänemark.
Auch im Leuk von damals war es schon anspruchsvoll, mit der Freiheit anständig umzugehen. Freiheit kann Gutes wie Böses zur Folge haben. Damit es gut geht, braucht es Spielregeln, an die sich alle halten. Im kleinen Raum Leuk wurde die Einhaltung dieser Regeln von der Bevölkerung übernommen. Jeder kannte jeden. Jeder kontrollierte jeden. Das sorgte für Ruhe und Ordnung, hatte aber nicht nur Vorteile.Es kommt darauf an, wie viel Verantwortung der Einzelne zu übernehmen gewillt ist.
Zu meiner Zeit in Leuk wurde diese Verantwortung von den Erwachsenen getragen. Unter ihnen gab es ein paar weise Männer. Die hatten mit ihrem Vorbild die Balance zwischen Gut und Böse zu Gunsten des Guten, zum Wohle der Gesamtheit, im Griff. Sie waren die ungekrönten Häuptlinge. Ihre Stellungnahmen wurden befolgt. Sie hatten Autorität. Sie sorgten für ein geruhsames Leben. Eine Art Schattenkabinett.
Freiheit ist eben nicht trivial!
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