Heute vor 89 Jahren begrüsste mich die Abendsonne an einem aussergewöhnlichen heissen Augusttag. Um es gleich vorwegzunehmen, meine Lebensbilanz ist positiv. Ich hatte und habe immer noch ein schönes Leben. Es war vor allem ein glückliches Leben. Ein Leben geprägt von Siegen und Niederlagen. Von grossen Freuden und traurigen Tagen. In stillen Stunden kommt es vor, dass unvermittelt Epochen aus meinem Erdendasein auftauchen. Von meinem vierten Wiegenfest an kann ich mich an fast alles erinnern. Besonders an den Geburtstagen findet dieses Erinnern statt. Meistens geht es um den Turnunterricht und um meine sportlichen Leistungen.
Die erste Turnstunde in der Primarschule werde ich nie vergessen. Die Halle kam mir unermesslich gross vor. Der Lehrer war für die damalige Zeit, 1939, fortschrittlich und pädagogisch begabt. Wir waren keine Buben im Turnunterricht. Wir waren Feuerwehrmänner. Wir sollten einen um sich greifenden Grossbrand löschen. Feuerwehrleute mussten die Feuerwehrleiter hinaufklettern. In unserem Falle war das die Sprossenwand. Mit der linken Hand hielten wir einen imaginären Feuerwehrschlauch. Mit ihm mussten wir den Brandherd mit Löschwasser bespritzen. Da stand ich mit den Füssen auf der dritten Sprosse. Mit der rechten Hand hielt ich mich an einer Sprosse auf Kopfhöhe fest. Die Linke musste fest hin und her geschwungen werden, um das Feuer so schnell wie möglich zu löschen. Mir gefiel die ganze Übung nicht. Ich fühlte mich unsicher, fand es gar nicht lustig. Ich hatte Angst.
Der grosse Horror fand immer am Ende der Turnstunde statt: Völkerball! Die Mannschaften wurden jedes Mal von neuem zusammengestellt. Zwei Captains, die zwei besten auf dem Turnplatz, wählten wechselweise aus der Kameradenschar einen Schüler in ihre Mannschaft. Ich wurde immer als letzter gewählt. Und immer als erster abgeschossen. Im Feld der Abgeschossenen wurde ich von den Kameraden sofort in die hinterste Ecke verbannt. Nie in meinem ganzen Leben hatte ich in den vielen Völkerballspielen je einen Ball aufgefangen, geschweige damit jemanden abgeschossen.
Mit zunehmendem Alter wurden die Turnstunden immer anspruchsvoller und für mich verhasster. Am Reck den Felgaufzug üben. Es dauerte Monate, bis ich endlich, heftig mit den Beinen zappelnd, über die Stange kam, mich aufstützen konnte. Beim Knieaufschwung ging es etwas besser. Nur verlor ich, einmal oben angekommen, meistens das Gleichgewicht und wirbelte wieder nach unten. Es ist mir nie gelungen, mich aus dem Hängen an der Reckstange hochzuziehen, bis mein Kinn über der Waagrechten lag. Das Reck war ein Alptraum. Die Turnstunde die Hölle. Noch schlimmer als das Reck war das Pferd. Ein vierbeiniges Ledergebilde, welches man der Länge nach überspringen musste. Ich nahm Anlauf wie wahnsinnig. Sprung! Statt wie es sein sollte, hinter dem Pferd zu landen, sass ich zum Gelächter aller Anwesenden wie ein Jockey mitten auf dem Turngerät.
Später, im Berufsleben, wurde ich Mitglied beim Tennisklub Wetzikon. Das war in der Zeit, als das Tennisspiel seinen Elitestandard verlor und zum Volkssport wurde. Die Zeit von Ivan Lendl und Steffi Graf. Für mich war Tennis ein Spiel mit einem Ball und einem Racket. Das hin und her über das Netz gefiel mir. Man attestierte mir sogar ein gutes Ballgefühl. Trotzdem fand ich ausser ein paar Anfängern keine richtigen Spielpartner. Alle wollten einen Match spielen. Alle wollten siegen. Alle kamen sich vor wie kleine Boris Beckers und Martina Hingis‘. Im Beruf hatte ich genügend Möglichkeiten, mit Konkurrenten zu kämpfen und wenn möglich zu siegen. In der Freizeit wollte ich spielen, nicht siegen. Es dauerte nicht lange bis ich einsah, auf dem Tenniscourt bin ich fehl am Platz.
Es blieb noch das Jogging. In der Natur im leichten Galopp durch die Gegend ziehen. Meistens war ich allein unterwegs. Das hatte seine Vorteile. Es war niemand da, der mich zu schweisstreibendem Gerenne motivieren wollte. Ich hatte meinen eigenen Trab. Die guten Ideen flogen mir zu. Beim Jogging kamen mir die besten Einfälle. Für viele Probleme im Beruf fand ich auf meinen Touren plausible Lösungen.
Es war klar. Ich war kein Sportsmann. Ich war der geborene Stubenhocker. Aber trotz wenig Bewegung habe ich es gesund und munter bald bis zu 90 Lebensjahren gebracht. Ich finde das aussergewöhnlich, und ich bin dankbar, dass dem so ist.
Stubenhocker haben Zeit zum Denken. Warum wollten mich meine besten Freunde immer zu Sport und Bewegung anhalten? Ich bin dafür nicht gemacht. Ich kann es nicht mehr hören. «Denk an Deine Gesundheit.» «Gehe regelmässig zum Check-up.» «Lauf täglich sechs Kilometer.» «So bleibst Du fit bis ins hohe Alter.» Das ist die Pauschalmeinung der Laien, um gesund zu bleiben. Nur ist sie falsch. Die naive Idee, dass wenn alle Bürger die erwähnten pauschalen Ratschläge befolgten, stünde es besser um die Volksgesundheit, bräuchte es weniger Gesundheitspflege, ist falsch. Es gibt keinen Wunderbrunnen, der allen die Jugend schenkt. Ich bin ohne alle diese gutgemeinten Ratschläge bislang gesund geblieben und sehr dankbar dafür. Warum will man nicht wahrhaben, dass jeder Mensch eine Originalausgabe ist, ein einmaliges Individuum, ein Einzelexemplar. Eine Einzelanfertigung mit persönlichen Begabungen, Talenten und Veranlagungen? Dass jeder eine innere Stimme hat? Eine Stimme, auf die er hören sollte. Damit sie das Heft in die Hand nehmen und die eigene Gesundheit überwachen kann. Dass der Körper genau das tut, was er und nur er nötig hat, um zufrieden leben zu können?
Frühere Generationen lebten so. In der Regel waren sie gesund. Fehlte etwas, gab es eine Reihe von Hausmittelchen, die dazu da waren, die Beschwerden zu lindern. Wenn man den Arm gebrochen hatte, ging man zum Arzt. Wenn man richtig krank wurde und einem nicht mehr geholfen werden konnte, wusste man, jetzt geht es zu Ende. Das gehörte zum Leben. So ist das Leben.
Inzwischen, so hat man mir gesagt, sind grosse Fortschritte in der medizinischen Versorgung erreicht worden. Bestimmt ist dem so. Das Gesundheitswesen ist zu einem grossen und wichtigen Industriefaktor herangewachsen. Mit allem, was zu dieser Industrie gehört. Hervorragende Produkte. Ausgefeilte Produktion. Professionelle Diagnosemöglichkeiten. Ein alles abdeckendes Verteilnetz. Der Kunde ist krankenversichert. Lauert da vielleicht die Versuchung, sich grosszügig zu versorgen, auch wenn es nicht unbedingt nötig wäre, um einen Teil der bezahlten Prämien zu amortisieren?
Könnte es sein, dass man sich wie in einem Gesundheitssupermarkt bedient, ohne dass dafür ein medizinischer Grund vorhanden ist? Ich weiss es nicht.
Das aber weiss ich. Um möglichst gesund zu bleiben, muss jeder auf sich selbst aufpassen und dafür sorgen, dass er genau die Pflege im Krankheitsfall bekommt, die er als Individuum gerade braucht. Es gibt keine Pauschallösungen.
Ratschläge von Laien nützen da wenig.
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