Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 8

Die Sonne verwöhnte Brig und seine Burger. Auch an diesem Tag schien sie vom wolkenlosen Himmel herab. Der Schlossgarten lud die Flaneure zum Lustwandeln ein. Die Wassertropfen des Springbrunnens glitzerten im hellen Licht. Im Pomarium reiften die Quitten, Birnen und Äpfel. Die Aprikosen- bäume waren schon geerntet. Vereinzelt hingen noch ein paar ausgetrocknete Früchtchen verloren an den kahlen Ästen. Die waren bei der Lese wohl ver- gessen gegangen. Hinten im Werkhof schwammen Forellen und Schleien im Gartenteich. Es roch nach Sommer. Nach Oberwalliser Sommer.

Auf den Stufen der Steintreppe, die in den Arkadenhof führt, sassen die Brü- der, eifrig im Gespräch vertieft. Die vier Jahre, die Alex nun in der Stadt am Fusse des Simplons verbracht hatte, waren im Nu verflogen.

Brig mit  Saltinaschlucht

Der tägliche Trott war durch die gut organisierte Lateinschule streng vorge- geben. Alex genoss diese Atmosphäre und brillierte als Musterschüler. Er war jetzt 16 Jahre alt und besuchte die Dialektik. In zwei Jahre würde er Maturand sein. Im Vergleich zu ihm war der zwei Jahre jüngere Ferdinand ein sehr durch- schnittlicher Schüler. Sein Lieblingsfach war allgemeine Mathematik, dann folgten Algebra, Geometrie und Analysis. Auf Latein hätte er gerne verzich- tet. Meistens wurden seine Übersetzungen von Alex korrigiert oder gar neu geschrieben. Ferdi schmuggelte sich durchs Studium und versuchte im Kollegi zu überleben. Für ihn war die Freizeit wichtig. Diese war zwar kurz bemessen, zwei bis drei Stunden verteilt auf den Tag, aber immerhin freie Zeit, die er selbst gestalten konnte. So entwich er der mühsamen Tretmühle des Unter- richts. Freie Zeit hiess für Ferdinand, Zeit an der Luft, Zeit, die es im Freien zu verbringen galt.

Obschon beide Studenten waren und unter dem gleichen Dach schliefen, tra- fen sie sich selten zu zweit. Zwei Jahrgänge Unterschied in der Hierarchie der Studenten war eine grosse Trennung, eine Mauer nahezu. Da beiden nichts an- deres einfiel, setzten sie sich auf die Stufen der Treppe zu einem seit langem fälligen Gedankenaustausch.

«Wie geht es denn meinem kleinen Bruder?», nahm Alex das Gespräch auf.

«Ich bin froh die Grammatik hinter mir zu haben, seit ich in der Rhetorik bin. Ich habe sehr darunter gelitten von den älteren Semestern gepiessackt zu werden. Es ist lächerlich, dass Anciennität im Studentenleben eine solch do- minante Rolle spielt. Ich werde mich hüten, meine Stellung als Rhetoriker bei den Neuen auszunützen. In den ersten zwei Jahren am Kollegium ist man als Studi ein Niemand. Ein Sklave gar. Schuhe der Älteren putzen, Teller waschen, Betten machen, Reinschriften erstellen. Schreibtische abstauben. Es ist kein Leben.» «Doch, doch, es dient dem Leben als Vorbereitung auf die Zeit nach der Matur», meinte Alex, «einmal muss man am eigenen Leibe erfahren, was unser Personal Tag für Tag für uns tut und wie das sich anfühlt.» «Du hast gut reden. Du hast schon den Status eines Dialektikers. Bald bist du im Lyzeum. Bald bist du Maturand. Kommt dazu, dass du mit deinen Lateinkenntnissen die Abschlussprüfung mit Bravour bestehen wirst. Du bist heute schon der Primus und der Liebling aller Patres.» «Nur nicht eifersüchtig werden, Brüderchen. Ich bin dankbar, dass ich ein Talent für Sprachen habe. Da fasziniert es, mit der Krone aller Sprachen, dem Latein, locker umgehen zu können.» «Von wegen Krone! Das Latein ist so kompliziert, dass man es im Grunde nur schreiben kann. Stundenlang darüber brüten, bis du das konjugierte Verb gefunden hast. Puh, für Dialoge völlig ungeeignet. Ich will nicht jammern. Mir fehlt jegliche Motivation, diesem Studienteil auch nur das Geringste abgewinnen zu können. Ich bin dankbar, dass du mir hilfst, mir die Studienaufgaben durchsiehst und von Zeit zu Zeit mit mir Vokabeln büffelst. Du bist wirklich gut. Ich habe letz- ten Dienstag gesehen und gehört, wie du mit den Patres lateinisch gesprochen hast. Kompliment. Übrigens, ich habe erst jetzt herausgefunden, dass unsere Lehrer gar keine Jesuiten sind.» «Das wusste ich auch nicht, als ich zur Auf- nahmeprüfung antrat. Der Papst und die Angehörigen der Gesellschaft Jesu sind sich um 1770 in die Haare geraten. Worauf der Heilige Vater seine tüch- tigste Kampftruppe im Sommer 1773 sang- und klanglos auflöste. Die Patres hat er in die Pfarreiseelsorge entlassen. So kam auch der Pfarrer Wegmann nach Salgesch. Den Unterricht hier übernahmen die Piaristen.» «Was wohl ein ähn- licher Orden ist wie die Jesuiten. Latein büffeln jedenfalls beherrschen sie vor- züglich.» «Die Geschichte dieses Ordens wirst du, wenn du in die Dialektik angekommen sein wirst, bis ins kleinste Detail kennen lernen. Heute nur so viel: Die Piaristen, die Frommen, wie du als guter Lateinschüler sofort begrif- fen haben wirst, sind in einem Orden organisiert. Das Besondere ist, sie legen nicht ein dreifaches Gelübte ab. Nein, ein Vierfaches: Armut, Keuschheit, Ge- horsam und Engagement für die Erziehung der Jugend.» «Das tun die hier in Brig mit peinlich genauer Auslegung ihres Eids. Jetzt verstehe ich auch, warum Pfarrer Wegmann früher Jesuit war. Deshalb beherrscht er das Lateinisch aus dem Effeff.» «Es wird Zeit. Wir müssen zurück in den Stollen.»

Als die beiden das Gebäude betraten, empfing sie eine ungewohnte Nervosität.

Es summte wie in einem aufgestörten Bienenkorb. Als sie alle im Speisesaal sassen, stand der Präfekt auf, klingelte, um Ruhe zu erheischen und erläuterte die bevorstehenden Ereignisse. Den Neubau, die daraus folgenden Auslagerung der Unterkunft der Internatsangehörigen, die Änderungen im Tagesablauf. Das war Gesprächsstoff bis zum Lichterlöschen. Vorher trafen sich die Gebrüder Werra im Gang. «Tolle Sache. Wir werden Externe. Ich werde bei Kaka woh- nen», vermeldete Alex. «Und ich bei Stockalpers!», triumphierte Ferdi.

Im Kollegium kam Leben in die Bude. Die Vorbereitungen für den Umzug der Schüler sorgte für Bewegung und Betrieb. Ferdinand erhielt von Rufus eine Dachkammer im Personalflügel des Stockalperhauses zugewiesen. Alles war da, was er brauchte. Kasten, Bett, Tisch, Waschschüssel und ein Plumpsklo am Ende des Korridors. Der Unterricht wurde durch die Bauarbeiten kaum ge- stört. Alles ging seinen gewohnten Gang. Nur die Abendstunden waren we- sentlich anders. Nach dem Studium bis um vier Uhr nachmittags verliessen die jungen Männer die Lehrstätte. Sie verteilten sich in Brig und Glis. Einige wohnten sogar in Naters. Alex wohnte bei der Familie Kalbermatten an der Furkastrasse. Ferdi genoss die Freiheit zusammen mit dem Personal von Stock- alper. Kurz nach vier trat er seine Arbeit im Arkadenhof an. Das Abendessen gab es in der Personalmensa. Dann war er seines Dienstes entledigt. Ab und zu half er nach dem Nachtessen noch in der Kanzlei aus. Es ging um die Kontrolle der Rechnungen und der Bilanzen. Für Ferdinand kein Problem, eine Freizeit- beschäftigung eher. Seine mathematischen Fähigkeiten halfen ihm. Er wurde ein Künstler im Zusammenrechnen. Alles ohne Notizen. Alles nur im Kopf. Und das fehlerfrei.

Oft trafen sich die Studis nach dem Souper verbotenerweise bei einem der anderen Kollegen in der Stadt. Der Präfekt liess zwar regelmässig den Pedell patrouillieren. Dieser musste feststellen, dass Ruhe und Ordnung herrschte. Die Kontrollgänge des Pedell hatten wenig Wirkung. Nach einem sehr kur- zen Rundgang traf er Freunde der Fuhrhalterei im «La Poste» bei einer Partie Kartenspiel.

Der Neubau war ein Segen. Vor allem während der Bauzeit. Sie verhalf den Studenten zu grosser Freiheit und wurde reichlich genutzt.

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