Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 9

Der Chef der Familie, Kaspar Jodok v. Stockalper, genannt Kaspar Jost, war für die Bevölkerung von Brig kaum sichtbar. Er mied die Öffentlichkeit. Alle sei- ne repräsentativen Pflichten überliess er seinen männlichen Nachkommen, al- len voran seinem Lieblingssohn Caspar Eugen. Der Chef verbrachte seine Zeit meistens im Stockalperhaus an der Simplonstrasse gleich neben dem Palast mit den drei Türmen. Oft weilte er auch in einer seiner zahlreichen Latifundien in St-Léonard, Saint-Maurice oder in Gondo. Kaspar Jost ging allen festlichen An- lässen und Feierlichkeiten aus dem Weg. Sonntags konnte man seiner Anwesen- heit während des Hochamtes in der Pfarrkirche in Glis gewahr werden. Er kam kurz vor Beginn der Messe per Kutsche und verliess die Kirche und den Friedhof sofort nach dem «ite missa est». So viel zum unsichtbaren Doyen von Brig. Fa- milienfestivitäten, die er gab, konnte man an einer Hand abzählen. Im engsten Familienkreis feierte er am 13. Dezember seinen Namenstag, am Tage des Heili- gen Jost, Schutzpatron der Pilger und Bäcker. Alle 25 Jahre hingegen gab es eine Ausnahme. Anlässlich des 25., 50. und 75. Geburtstags von Jost wurde jeweils am 11. Mai sein Ehrentag gefeiert. Da gab es ein grosses Fest in der Stadt und im Schloss, zu dem alle Burger eingeladen waren. Am Abend traf sich noch eine Schar von handverlesenen Berühmtheiten aus Adel und Geistlichkeit im Ritter- saal. Am 11. Mai 1788 fiel der Geburtstag auf einen Sonntag. Der Haushofmeis- ter hatte die Vorbereitungen eingeleitet. Da es mit Gewissheit der letzte grosse Geburtstag von Kaspar Jost sein würde, sollte es ein ganz grosses Fest werden.

Alex hatte die Matura im Frühsommer 1787 bestanden. Einmal Primus, immer

Primus. Er wurde als bester Maturand der letzten Jahre gefeiert. Damit war eine wichtige Etappe in seinem Leben abgeschlossen. Trotz den vielen Gratulatio- nen, den lauten Abschiedsfeiern und den nicht enden wollenden Glückwün- schen blieb Alex der unauffällige, bescheidene Mann. Er bildete sich nichts auf seine Volljährigkeit ein. Er packte seine Koffer, seine Bücher und sein Diplom zusammen und verliess Brig in aller Stille. Auf einmal war er nicht mehr da. Den wenigsten fiel es auf.

Ferdinand, das pure Gegenteil, war, wo immer er auftrat, der Mittelpunkt. Er verstand es, den üblichen Konflikten des Studentenlebens aus dem Wege zu

 

gehen. Wenn es irgendwo etwas zu feiern gab – Ferdinand war dabei. Er war ein sehr durchschnittlicher Schüler. Trotzdem gelang es ihm, mit mässigen Leis- tungen mit seinen Lehrern einen guten Kontakt zu pflegen. Mit dem Präfekt hatte er gute Beziehungen, und sogar der Rektor war ihm freundlich gesinnt. Den Pedell hatte er sich gekauft. Seine Arbeit bei Stockalper trugen ihm einige Batzen ein. Diese verwendete er sorgsam und gezielt, um sein Ansehen in Brig zu festigen. Dem Pedell liess er unauffällig und nicht allzu oft ein Trinkgeld zufliessen. Sein Auftritt war immer korrekt und diskret. Ferdi wusste sich zu bewegen und war überall gerne gesehen. Man hatte ihn einfach gern. Bei seiner Arbeit im Arkadenhof hatte er Karriere gemacht. Längst war er nicht mehr mit den niedrigen Arbeiten der Stallknechte beschäftigt. Hildebrand hatte in- zwischen seine Talente im Umgang mit Zahlen, sein Beherrschen der Rechen- kunst entdeckt. Seit längerer Zeit schon sass Ferdi an einem Pult in der Kanz- lei. Dort überprüfte er die Abrechnungen, korrigierte begangene Rechenfehler und übertrug die richtigen Zahlen in das Rechnungsbuch. Beim Personal hatte er einen zwiespältigen Ruf. Er war ein guter Buchhalter. Das trug ihm von den älteren Kollegen Neid und Missgunst ein. Anderseits war er der gute Kumpel, der begangene Ungereimtheiten in den Warenrechnungen diskret und ohne Aufhebens verschwinden liess. Nie erteilte er Tadel. Nie stellte er Kollegen aus der Schreibstube bloss. So gesehen, war er ein guter Kamerad. Der Ruf, von den Stockalpern protegiert zu sein, haftete ihm an wie eine Klette, den brachte er nicht los. Ferdinand konnte damit leben. Es gefiel ihm, in die Nähe der führen- den Familien des Oberwallis zu gehören.

Eines Abends, es war schon dunkel, tauchte Rufus in der Kanzlei auf. Er winkte

Ferdinand zu und deutete ihm, in den Korridor zu kommen. Rufus führte ihn in die Details der Festivitäten zum 75. Geburtstag des Chefs ein. Nicht nur wusste er jetzt alles über den Ablauf des ganzen Festtages. Rufus eröffnete ihm, dass die Familie eine Delegation der Werras aus Leuk zum Feste laden möchte. Kaspar Eugen hatte den Obersten aus dem Majorshof mit Gemahlin vorge- schlagen. Nun brauche es noch ein paar Jüngere. Natürlich sei auch er zum Bankett im Rittersaal eingeladen. Sprachlos stand Ferdinand da. Das war ja unglaublich. Das war die Chance, in Brig Einfluss zu gewinnen und Beziehun- gen aufzubauen. Ferdinand bedankte sich für die hohe Ehre, die ihm gegeben wurde. Rufus nickte und verschwand.

Das Wallis wird vom Wettergott besonders verwöhnt. Das Tal des Rotten ist an sonnige Tage gewohnt. Heute schlug das schöne Wetter am Geburtstag von Kaspar Jost alle Rekorde. Der Sonnenaufgang war schon besonders. Es schien, als überreichte die Sonne, hinter dem Glishorn hervorschielend ihr eigenes Geburtstagsgeschenk ins Schloss.

Um elf Uhr läutete die Glocke der Jesuitenkirche. Ganz Brig war schon im Schlossgarten versammelt. Mitglieder und Personal der Stockalperei und viele Burger der wichtigen Familien der Stadt am Fusse des Simplons gaben sich ein Stelldichein. Die Geistlichkeit, angeführt vom Bischof, schritt zusammen mit dem Rektor und dem Stadtpfarrer die Treppe vom Arkadenhof herab. Weitere Priester und Messdiener begleiteten sie. Das Hochamt fand statt. Der Abt von Saint-Maurice hielt die Predigt. Kurz vor Mittag war es so weit: «ite missa est», was wohl eher mit «das Fest kann beginnen» übersetzt werden kann. Der Segen war erteilt. Die Festgesellschaft verteilte sich im Garten. Die Spiel- leute der Volksmusikkapelle sorgte gleich für Stimmung. Überall standen Ti- sche mit Wein, Apfelsaft und Wasser sowie Käse, Brot und Wurst bereit. Es ging zu wie an einem Jahrmarkt. Ein Karussell voller jauchzender Kinder drehte seine Runden. Für die Prüfung der Geschicklichkeit standen ein Schiessstand und je ein weiterer zum Büchsen- und zum Ringwerfen bereit. Sogar die alte Kegelbahn war wieder in Betrieb.

Die Familie Stockalper hielt hinter dem Springbrunnen Hof. Alle waren er- schienen und nahmen ihre Plätze ein. Der alte Herr nahm gnädigst die Huldi- gungen und Gratulationen in Empfang.

Alle kamen auf ihre Rechnung. Die Jungen tanzten zur lüpfigen Musik. Män- nergruppen standen, immer mit einem Glas Wein in der Hand, zusammen und diskutierten. Genauso hatten auch die Frauen Plaudergrüppchen gebildet. Eher dem Most und dem Wasser zugewandt, tauschten sie Klatsch aus und kritisier- ten die Garderoben anderer Burgerinnen. Die Imbissstände wurden um vier Uhr abgeräumt. Ab jetzt gab es nur noch Wasser. Um fünf spielte die Kapelle den letzten Ländler. Gegen sechs leerte sich der Festplatz allmählich. Die Herr- schaften begaben sich nach Hause, um sich für das Dinner umzuziehen.

Arkadenverbindung vom Schloss zum Stockalperhaus

Ab sieben Uhr füllte sich der Rittersaal. Alle hatten sich herausgeputzt. Die Da- men elegant mit modernen Roben und viel Schmuck. Die Herren ausnahmslos im Frack und Orden. Das Salonorchester intonierte dezente Tanzmusik. Acht- zig Geladene verteilten sich an zehn runde Tische. In der Mitte der Ehrentisch mit dem Jubilar und seiner Frau und dem Burgermeister mit seiner Gattin. Für den Bischof war die jüngste Tochter des Hauses als Ehrendame kommandiert. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Rolle zu spielen. Eminenz hingegen fühlte sich ge- ehrt und genoss die Anwesenheit einer züchtigen Dame sichtlich. Auch Oberst Joseph Alex Werra und seine Frau Marie Katharina sassen am zentralen Famili- entisch. Ansprachen wurden gehalten, Toaste ausgebracht. Es wurde genussvoll getafelt und getanzt. Alle drehten sich abwechslungsweise im Kreise. Nur der Gastgeber und der Bischof verzichteten auf ihr Tanzrecht. Alle, die Schmidhal- ters, die Eschers, die Kalbermatten, die Perrigs und die Kaempfens, mit ihnen viele Bewohner der Stadt, genossen es, mit anderen Frauen in den Armen ver- steckte Zärtlichkeiten auszutauschen. Vor allem die Jungen liessen keinen Tanz aus. Nach dem Dessert – die Stimmung erreichte ihren Höhenpunkt – meldete der Tafelmajor das Ereignis des Abends: Damenwahl! Ferdinand konnte sich kaum umsehen, da stand schon Margaretha, die Ehrendame des Bischofs und jüngste Tochter des Jubilars, vor ihm. Augenblicklich nahm er die Aufforde- rung an. Schon flog ein junges Paar in gekonntem Schritt über das Parkett. Beide genossen es, einander in den Armen zu liegen, sich körperlich so nahe zu sein und im Takte der Musik ihre Kreise zu drehen. Es sollte nicht der letzte Tanz mit Margaretha sein. Inzwischen sass sie bei Ferdinand am Tisch und genoss die Anwesenheit des kessen Junkers aus Leuk. Fröhlich ging es weiter. Die Becher klangen, Lieder wurden angestimmt, vor allem aber wurde getanzt wie ein Lumpen an einem Stecken. Kurz vor Mitternacht war Margaretha plötzlich verschwunden, auf einmal unauffindbar.

Die Musik spielte den letzten Tanz. Lichterlöschen. Das Fest war aus. Ferdinand fand sich etwas benebelt in seiner Schlafkammer wieder. Vollkommen angekleidet warf er sich aufs Bett. «Ich glaube, ich bin verliebt!», murmelte er vor sich hin. Das ist eine Klassefrau, die wilde Margaretha. Ein solches Weib sollte man heiraten. Später vielleicht. Jetzt keine Weibergeschichten. Zuerst muss die Matura bestanden sein …

Das Leben ging wieder normal weiter, als ob es nie ein Fest gegeben hätte. Fer- dinand kam Margaretha nicht mehr zu Gesicht. Er bestand knapp die Matura. Egal wie gut, er hatte das wichtige Diplom in der Tasche!

Der Neubau des Kollegiums wurde eingeweiht. Dann hiess es, Abschied von Brig nehmen. Ein Stallknecht von Stockalper brachte ihn und sein Gepäck nach Salgesch.

Ein Lebensabschnitt war damit zu Ende gegangen

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