1788
Emsiges Treiben auf dem Markt vor der Sebastianskapelle. So wie es sich für Brig im Juni gehört. Kein Hauch eines Windes. Sommerwetter, Reisewetter. Ferdinand hatte am Vorabend seine Koffer gepackt. Heute sollte es wieder nach Hause, nach Salgesch zur Familie gehen. Sieben Jahre hatte er in Brig studiert. Nur ab und zu fand man ihn während den Ferien in Salgesch. Die meisten da- von hatte er bei Familien von anderen Studenten verbracht. Auch war er oft in Leuk bei einigen Cousins gewesen. Vor allem besuchte er oft den Majorshof. Der Familie von Cousin Colonel war er näher gekommen.
Ferdinand überfiel eine ungewohnte, seltsame und wehmütige Empfindung, Brig zu verlassen.
Blick gegen Simplon mit Stockaplperschloss
So schnell würde er nicht wieder an den Fuss des Simplons zurückkommen. Eben hatte es elf geschlagen. Valentin Aufdereggen führte das Karriol aus dem Hause Stockalper, auf welchem er mit seinem Gepäck Rotten abwärts nach Salgesch reiste. Väli war einer der drei Männer, die sich in Brig um die Pferde- stallungen mit allem, was dazu gehörte, kümmerten. Sie waren Stallknechte, Kutscher und Kuriere in einer Person. Ferdinand hatte sich während seiner Studienzeit mit den drei Burschen angefreundet. Damals, als er zweimal die Woche mithalf, die Pferde zu bewegen. Dank seinen Beziehungen zu Rufus standen ihm heute Kutscher, Pferd und Wagen für seine Nachhausefahrt zur Verfügung. Valentin war seit fünf Jahren bei Stockalpers im Dienst und ein paar Jahre älter als sein Fahrgast. Er liebte es zu plaudern, zu erzählen, zu unter- halten. Genau die Sorte Mann, die man für eine längere Wagenfahrt braucht.
«Wir werden sechs bis sechseinhalb Stunden brauchen, bis wir in Salgesch sein werden. Ich schlage vor, wir fahren über Turtmann nach Leuk. Dann über Va- ren nach Salgesch.» «Einverstanden, du bist der Kutscher.» Ferdinand hätte gerne schweigsam vor sich hin sinniert. Das gelang nicht. Valentin wollte ein- fach quatschen. «Du wirst uns fehlen, Ferdi. Du warst immer ein guter Kame- rad und hast uns viel geholfen. Es ist dir gelungen, mit uns als unseresgleichen umzugehen. Nie hast du uns zu spüren gegeben, dass du eigentlich zur Herr- schaft gehörst. Du hast Stil. Ab jetzt wirst du sicher eigene Bedienstete haben und eine Familie gründen.» «Noch ist es nicht so weit. Ich möchte vorher noch an die Uni und Jura studieren. Dann sehen wir weiter.» «Es hat sich her- umgesprochen, dass Marie-Claire ein Auge auf dich geworfen hat.»
«Marie-Claire?» «So nennen wir die jüngste Tochter von Kaspar Jost. Da staunst du, was wir so alles wissen. Unsere Informationsquellen sind die Frauen im Personal. Allen voran die Köchin. Mit der muss man sich aus den verschiedensten Gründen gut stellen. Wenn du bei der in Ungnade fällst, riskierst du zu verhungern. Sie besitzt alle Tricks, dir das Essen zu vermiesen. Nur noch steinhartes Brot, leicht angefaulter Salat, angebrannte Teigwaren. Du weisst schon. Kommt zweitens dazu, sie ist die Drehscheibe der Gerüchte und der Neuigkeiten. Auch wir in den Stallungen leisten unseren Beitrag, die Infor- mationen zu mehren, gehen wir doch als Kuriere in allen Haushaltsküchen der Herrschaften ein und aus. Die Oberen haben keine Ahnung davon, wie wir unsere Nachrichtenpuzzles zusammenstellen und ausnützen. Nur eines ist verboten: Die Indiskretion. Gib nie die Quelle deines Wissens bekannt. Nie damit im Wirtshaus angeben. Dafür immer offene Ohren und Augen haben.
Dir daraus einen Reim schmieden. Deine Fakten nur mit einem, höchstens zwei zuverlässigen Freunden teilen, analysieren, auswerten und die möglichen Folgen zusammenstellen. Wir wissen fast alles, was im Hause Stockalper läuft. Es ist eine reine Männerwirtschaft. Es geht immer um Mehrung. Mehrung des Vermögens durch eine gute Heirat mit einer reichen Frau, Mehrung der Macht durch Verschwägerung der Familien unter sich. Mehrung des Ansehens durch prunkvolles Auftreten und durch galante Gespräche in den Salons. Diese Auf- gaben können nur der Chef der Familie und seine Söhne erfüllen. Die Töchter, wenn sie standesgemäss verheiratet werden sollen, kosten eine Menge Geld. Die notwendige Mitgift bedeutet ein gehöriger Aderlass für das eigene Gut. Am kostengünstigsten kommt man davon, wenn man sie ins Kloster abserviert. Kreszentia, die Schwester von Marie-Claire, ist ein Beispiel dafür. Sie ist schon seit neun Jahren im Kloster Kaufbüren. Auch Marie-Claire wird in ein paar Jahren den Schleier nehmen müssen. Da wette ich 10 Batzen drauf.»
Ferdinand hatte den Monolog nicht unterbrochen und sich vorgenommen, bei seinem eigenen Gesinde diese Lektion nicht zu vergessen. Er nahm sich vor, in naher Zukunft eine Familie gründen. Mit dem eben Gelernten wusste er nun, was zu tun war, wenn es wirklich geheim und diskret, in camera caritatis, zu- gehen sollte.
«Hier in Visp gibt es das ‹Hotel Sonne›. Die haben eine gute Brasserie. Ich führe Attila dorthin.»
Um halb zwei waren Attila und die beiden Männer gut verpflegt. Weiter ging es. Rotten abwärts nach Susten bei Leuk.
Raron mit Werrahaus und Wohnturm Roten
Eine Stunde später tauchte die markante Kirche von Raron am Nordufer des Rottens auf. Sie liegt hocherhaben über dem Tal. Unverkennbar ihre Silhou- ette. Für die Gläubigen allerdings artet der Kirchgang in eine kleine Bergtour aus. Ein Bussopfer für die Betagten, schon bevor der Gottesdienst beginnt. Die Angehörigen der Familie Roten sind dieser Strapaze entbunden. Sie erreichen die Kirche innerhalb von fünf Minuten. Ihr Wohnturm steht gleich neben dem Friedhof.
«Dort hat Alex eine Anstellung in der Kanzlei des Rechtsanwalts Peter Roten gefunden. Er ist schon über zwei Jahre nicht mehr im Balethaus erschienen. Ich glaube, da ist etwas im Busch.» «Das würde mich nicht wundern. Alex hat immer gerne den Mädchen und den jungen Zofen schöne Augen gemacht. In Raron wird er bestimmt etwas aufgabeln.» «Väli, schau mal links, da gabs vor ein paar Wochen einen tüchtigen Brand. Nur ein verrusstes Gebälk, ein schwarzes Skelett steht noch.» «Das ist das Gehöft Schnidrigu. Es ist völlig ausgebrannt. Viel Vieh ist erstickt. Die Bauersleuten sind mit heiler Haut und grossem Schreck davongekommen. Sie haben Haus und Hof verloren. Schreck- lich. Das Rottental ist in den letzten Monaten mehrmals von den verschie- densten Landplagen heimgesucht worden. Von Erdbeben, Feuersbrünsten und Überschwemmungen. Unser Land wurde von Naturkatastrophen arg gebeu- telt. Vor zwei Wochen ist die Hauptstadt östlich der Sitter samt den Schlössern von Tourbillon fast völlig niedergebrannt.» «Ich weiss. Zwei Tage nach der Katastrophe hat Pater Norbert, er war zum Bischof kommandiert gewesen, als Augenzeuge davon berichtet.
Die Ursache des Feuers ist unbekannt. Irgendwo muss ein offenes Feuer die Umgebung ergriffen haben. Das Problem war der Wind. Ein äusserst heftiger Föhnsturm muss das Feuer regelrecht angeblasen haben. Mit einer ausserge- wöhnlichen Geschwindigkeit breitete sich der Brand aus. Sogar die Burgen Maloria und Tourbillon wurden erfasst. Mehr als 120 Häuser und über 100 Scheunen wurden zerstört. Das linke Sitterufer gleicht der Hölle. Es riecht pe- netrant nach Verbranntem. Dem Burgerrat steht eine Herkulesarbeit ins Haus. Der Wiederaufbau der Rue du Grand Pont wird ihn Jahre beschäftigen.» So viel die Aussagen des Paters Norbert im Kollegium. «Feuer und Wind fressen geschwind», antwortete sichtlich beeindruckt Väli.
Unterdessen ratterte unser Karriol über die Holzbrücke der Rhone der Burg- schaft Leuk entgegen.
Im Städtchen herrschte der übliche Abendbetrieb. Hausfrauen kamen aus dem Konsum. Sie begaben sich in ihre Küchen, das Abendessen zu bereiten. In den Ställe muhten die Kühe, als wollten sie sagen: «Wir haben Durst». «Zuerst melken, dann tränken», dachten die Knechte. Die Katzen schlichen aus ihren Verstecken und versammelten sich im Kuhstall. Sie miauten, einen Schluck Milch bettelnd. Der Geisshirt kam mit seinen Tieren zurück. Diese verteil- ten sich selbstständig in ihren Ställen. Unser Wagen hatte sich durch diese Be- triebsamkeit in die Varengasse vorgekämpft. Als sie am Marjorshof vorbeifuh- ren, ergriff Väli wieder das Wort. «Das ist das schönste Schloss in der ganzen Burgschaft. Und auch der gepflegteste Haushalt in der ganzen Umgebung. Ein Vorbild. Saubere Ställe, gesunde Pferde, neben der Küche ein gutes Personal- zimmer. Ich war hier schon ein paar Mal als Kurier anwesend. Botengänge für den alten Herrn. Ab und zu auch Kutschenfahrten für die Herrschaft. In der Küche hier herrscht die vollkommenste Köchin. Sie versteht sich nicht nur aufs Kochen. Sie ist auch eine liebenswerte Gastgeberin für das Personal. Vor allem aber ist sie die Informationszentrale von Leuca fortis. Alle Stallknechte, Kurie- re und Fuhrhalter kommen gut mit ihr zurecht. Eine wahre Perle.» Väli war richtig ins Schwärmen geraten. «Da kann ich nur beipflichten», sagte Ferdi,
«der Oberst ist mein Cousin. Während den grossen Ferien im Kollegi war ich hier oft zu Gast. Das Haus wird geführt wie ein Regiment. Disziplin, Pünkt- lichkeit und Ordnung. Herr Werra ist ein echter Patriarch. So soll mein Haus- halt auch einmal aussehen.» «Mein lieber Ferdi, ohne Geld, ich meine ohne Reichtum geht das nicht. Und wie kommt man zu solchem? Eine gute Partie heiraten vielleicht. Oder eine flotte Erbschaft antreten. Wünsche viel Glück.»
Valentin war sich nicht bewusst, wie hellseherisch er in die Welt hinaus plau- derte. Die Dala war überquert. Varen lag hinter ihnen.
Gegen sechs fuhren sie im Hof von Salgesch vor. Sie wurden von Viktor empfangen. Er trug das Gepäck ins Haus. Valentin und Ferdinand folgten ihm und traten gleich in die Küche ein. Ein grosses Hallo. Ludwina stürzte sich auf Va- lentin. «Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wir haben dich er- wartet. Du kannst bei uns nächtigen. Setze dich, ich habe da noch etwas heissen Tee. Ferdinand zurück aus Brig. Ein richtiger Maturand. Willkommen heim.» Ferdinand meinte, in einer falschen Küche gelandet zu sein. Seine Rückkehr nach sieben Jahren wurde gerade noch als Nebensatz erwähnt. Valentin da- gegen wie ein Prälat empfangen. Zu dritt sassen sie am Küchentisch, Valen- tin und Ludwina ins Gespräch vertieft, als die Türe zur Stube aufging und ein junges Mädchen, ein ansehnlicher Backfisch, eintrat. Sie blieb im Türrahmen stehen, überblickte skeptisch die Runde. «Das muss mein grosser Bruder aus Brig sein», murmelte sie mehr zu sich als zu den Gästen. Machte einen höf- lichen Knicks und setzte sich auf den freien Stuhl. Ferdinand glaubte seinen Augen nicht. Er wurde begrüsst und behandelt wie ein Gast. Wie ein entfernter Verwandter. Eine verlegene Stille stellte sich ein. Ludwina löste die Spannung.
«Ich zeige euch die Zimmer.»
Varen und Rhonetal Richtung Sitten
Die Köchin hatte Ferdinand informiert, Papa Alex werde heute Abend nicht zum Essen erscheinen. Er sei nach Leuk geritten und werde erst spät abends nach Hause kommen. Die Stute Lisa, sein Lieblingspferd der Jugend, war nicht mehr im Stall. Sie war auf ihr Altersteil gesetzt und fristete ein Dasein auf der Weide beim Schloss in Agarn, zusammen mit ein paar ausgedienten Tieren von Cousin Colonel. Der Gutsverwalter hatte dort eine Koppel für ausgediente Pferde und Maulesel ausgesteckt. Lisas Platz im Hof hatte jetzt ein älterer Wal- lache, Felix, inne. Der war beim Oberst in Leuk ausgemustert worden. Immer- hin hatte der Pferdewechsel nichts gekostet. Ein Geschenk aus dem Majorshof. Der Gaul war durchaus noch für Fahrten und Ausritte brauchbar. «Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul», dachte Ferdinand. Quelle tristesse!
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