Es war im Jahre 1987 im Herbst. Mein Vater und ich waren in Leukerbad an einem Familientreffen. Er nahm mich damals zur Seite und klagte darüber, dass «seine Pumpe nicht mehr richtig funktioniere. Er begänne sein Alter zu spüren». Ich hörte ihm höflich zu, nicht wissend was er mir mitteilen wollte. Damals wusste ich noch nicht was Alter für meinen Vater wirklich bedeutete und dass er den Dialog suchte. Im Frühjahr darauf ist er gestorben. Ich bin nicht mit ihm in ein Gespräch gekommen, weil ich nicht wusste was Alter wirklich ist. Heute ist das anders. Ich weiss jetzt um was es da wirklich geht.
Mein Papa suchte das Gespräch. Etwas klausuliert vielleicht, aber er möchte mit mir über die Gefühle seines zu Ende gehenden Lebens sprechen. Auf der einen Seite war es für ihn immer ein Tabu, darüber zu sprechen Auf der anderen Seite möchte er sich trotzdem damit mit jemandem unterhalten.
Mein damaliges falsches Verhalten plagt mich heute noch. Um diesen Fauxpas gut zu machen, möchte ich versuchen, einige persönliche Gedanken zum Altern los zu werden.
Die meisten welche diese Kolumne lesen, werden vielleicht etwas verständnislos den Kopf schütteln. Dafür habe ich Verständnis. Bis vor einem halben Jahr ist es mir nicht anders ergangen.
Inzwischen melden sich bei mir ganz neue Signale. Die Abnahme der physischen Leistungsfähigkeit. Für alles mehr Zeit gebrauchen. Die Reduktion meiner Produktivität. Alle diese kleinen Defizite zu akzeptieren. Es ist nicht so einfach, mit alldem klarzukommen.
Deshalb habe ich mich entschieden in ein Trainingslager zu gehen. Das natürlich nur im übertragenen Sinn.
Es soll mir helfen, mit den Tatsachen des Alters fertig zu werden. Erst seit sechs Monaten beginne ich die Neuheiten des Alters so richtig zu spüren. Eine neue Epoche hat in meinem Leben begonnen. An und für sich ist das nichts Aussergewöhnliches.
Im Trainingslager habe ich die dazu gehörenden Aufgaben als klar formulierte Ziele festgehalten.
Als erstes habe ich mir streng verboten zu jammern. Ich muss lernen damit fertig werden, dass meine physische Kraft abgenommen hat. Heute kann ich nicht mehr zwei Harassen Mineralwasser auf einmal in den Keller tragen. Zweimal wird heute gelaufen.
Viele von diesen neuen Situationen werden jetzt trainiert. Es ist vor allem ein mentales Training. Der Kopf hat noch nicht begriffen, noch nicht angenommen, dass die Leistungsfähigkeit des Körpers deutlich kleiner geworden ist. Immer schon habe ich gewusst, dass der Körper mit dem Alter schwächer wird. Der Denkfehler dabei war, dass dieser Prozess gleichförmig linear abläuft. Dem ist nicht so. Das wirkliche Altern findet sprunghaft, stufenweise statt. Plötzlich bin ich nicht mehr in der Lage, etwas zu tun, was früher selbstverständlich funktionierte. Alles geht langsamer. Alles dauert länger. Vieles, was bis Kurzem in einem Tag erledigt wurde, beansprucht auf einmal die drei- bis vierfache Zeit.
Das ist ja alles logisch für einen aussenstehenden Beobachter. Für mich aber noch nicht. Ich jedoch mache täglich Fortschritte. In Häppchen akzeptiert auch mein Kopf, dass dem so ist. Das dazu nötige Training funktioniert wirklich. Die Folge ist ein ganz neues Handhaben des Alltags. Hinderlich, um geistig damit fertig zu werden, ist die alte Gewohnheit, die ganze zur Verfügung stehende Zeit produktiv nützen zu wollen. Ich habe jetzt gelernt, ab und zu einfach nichts zu tun. Das, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil Zeit verschwendet wird. Ich habe gelernt ein neues Verhältnis zur Produktivität zu entwickeln. Ich bin ja immer noch in der Lage meinen Alltag zu meistern. Nur dauert es etwas länger. Heute, da ich dies schreibe, habe ich mich schon ganz gut in dieser neuen Lage zurechtgefunden. Das Training hat mich zur Erkenntnis gebracht das Alter zu geniessen. Es sich leisten zu können grosszügig mit der Zeit umzugehen. Zu akzeptieren, dass trödeln erlaubt ist. Dann sind da noch die kleinen Wehwehchen, die das Alter so mit sich bringen. Diese sollten nicht ernst genommen werden. Nicht der Gleichen tun.
Oft vergleiche ich mich mit einem schönen, in die Jahre gekommenen Oldtimer. Am liebsten stelle ich mir ein etwas verrosteter Thunderbird-Cabrio vor. Ein paar Schrauben sind schon locker und das Schutzblech klappert zwar, doch der Wagen läuft noch.
Einen fast idealen Lebensumstand habe ich so geschaffen. Auch wenn gewisse Abnützungserscheinungen unverkennbar sind. Inzwischen ist für mich das Alter durchaus positiv besetzt. Ich freue mich jeden Tag darüber, mein schönes Leben fortzusetzen. Es ist für mich ein Privileg von vielen Menschen umgeben zu sein. Menschen mit denen ich regelmässig Kontakt pflege. Sie geben mir Anregungen, gute Gedanken und viel Humor. Letzteres sind Vitamine für meine Seele . Dazu kommt, dass meine Geisteskräfte bis dato überhaupt nicht unter dem Alterungskonzept gelitten haben.
Mir hat es auf dieser Erde immer sehr gut gefallen und ich setze alles daran, dass es so noch eine Weile weitergeht.
Das Alter ist eine eigene, spezielle Epoche im Leben eines Menschen. Das Alter zu gestalten ist nicht ganz einfach. Mit ein bisschen Einsatz ist es durchaus möglich, es zu einem annehmbaren Lebensabschnitt umzubauen. Der Aufwand lohnt sich. Helfen Sie mit, liebe Leserin, lieber Leser, Menschen, die Sie kennen und die im letzten Abschnitt ihres Lebens stehen, Mut zu machen. Mut bei dieser Umgestaltungsarbeit. Ihnen zu helfen, indem Sie sie ernst nehmen und ihnen den ersehnten Dialog nicht verunmöglichen. Es wäre eine gute Tat.
Zurück zu meinem Vater in Leukerbad. Ich hatte ihn damals mit seinen Sorgen allein gelassen. Heute wüsste ich es besser. Ich hätte begreifen sollen, dass er meinen Beistand nötig hatte.
Auch ich kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, um Verpasstes nachzuholen. Was geschehen ist, ist geschehen.
Aber, wenn ich heute einen Menschen treffen würde, bei dem ich fühlte, dass er den Wunsch hegt, über seine Sorgen mit seinem Alter zu sprechen, ich würde sofort das Gespräch mit ihm führen. Nicht nur höflich zuhören. Ich würde versuchen seine Emotionen zu verstehen. Ihn zu einem Wohlergehen zu verhelfen. Ich würde versuchen den sorgenvollen Zustand meines Gegenübers bewusst und korrekt zu erfassen.
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