Das Fest des heiligen Niklaus am 6. Dezember habe ich ein Leben lang genossen.
In meiner frühesten Jugend erlebte ich schon mit Spannung die Ankunft des Bischofs aus Spanien mit seinem Knecht Piet. In Holland war das der Anfang einer längeren Festzeit, an der es für alle Geschenke gab. Zu der Zeit war Weihnachten in den Niederlanden das Fest der Geburt Christi. Da gab es zwar den Weihnachtsbaum und die Krippe, aber keine Geschenke. Das erledigte der Niklaus drei Wochen vorher. Der Namenstag des Niklaus ist immer noch ein richtiges Volksfest, an dem die Kinder ihren grossen Anteil haben.
Später in der Schweiz verschoben sich die Gewichte. Am 5. und 6. Dezember zog der Nikolaus mit seinem Knecht Schmutzli von Familie zu Familie und diente der Erziehung und dem Beschenken der Kinder. Als Schmutzli startete ich meine Karriere als einer der Darsteller bei diesem Fest. Das war meine Lehre, mit fremden Kindern umzugehen. Es ging nicht lange, und ich war der Hauptdarsteller, der Chlaus. Diese Rolle sollte mich mein ganzes Leben begleiten. Als Nikolaus war ich ein gefragter Mann.
Als meine Braut und spätere Frau in Basel im Bläsischulhaus unterrichtete, brauchte sie einen Chlaus. Natürlich war ich zur Stelle. Alle waren mit meinem Aufritt in der zweiten Primarklasse zufrieden. Sowohl die Kinder wie auch Doris. Ich verabschiedete mich bei den Kindern. «Der Nickinecki muss jetzt weiter. Sein Eselchen wartet schon im Schulhof.» Das war ein Fehler. Alle Buben und Mädchen wollten mit mir in den Hof, um das Eselchen zu sehen und es zu streicheln. Wie Doris es geschafft hat, die Kinder im Klassenzimmer zu halten, bis ich das Weite gesucht hatte, weiss ich nicht mehr.
Ein paar Jahre später kam der Niklaus bei unserer Familie in Basel auf Besuch. Die Rolle des Niklaus hatte Willi, der Götti von Susanna und Obmann der Fasnachtsclique Rumpel übernommen. Für diesen Einsatz der richtige Mann. Nach seinem Auftritt, wir sassen alle schon am Tisch bei Kaffee und Kuchen, kam «zufällig» Willi vorbei und gesellte sich zu uns. Als es Zeit wurde, brachte ich Christine und Susanna ins Bett. Beim Gutachtsagen erwähnte Susanna ganz nebenbei «der Samichlaus und der Götti haben die gleichen Schuhe.»
Oft wurde ich als Niklaus an Erwachsenenanlässe gebeten. Da gehörte es sich, mit geistvollen Sprüchen und ausgefallenen Geschenken dem Abend die richtige Würze zu geben. Einmal stach mich der Hafer. Aus meinem Sack schenkte ich einem Mitglied unseres Rotaryklubs ein lebendiges Kaninchen.
Als Sabine im Gymnasium war, hatte sie mich überredet, als St. Niklaus in ihrer Klasse zu erscheinen. Inzwischen hatte ich schon etwas Routine und glaubte, aus den gemachten Fehlern gelernt zu haben. So setzten sich Sabine und ich schon im November zusammen. Das, um den Anlass sorgfältig zu planen. Wir würden zu zweit auftreten. Mein Bruder als Schmutzli und ich natürlich als Chlaus. Es wurde die Chemiestunde als Austragungsort gewählt. Das passte gut. Erstens kann Chemie im Gymi nicht oft genug ausfallen. Und zweitens war der Chemielehrer ein Konsemester von mir. Wir hatten zur selben Zeit am Poly studiert. Hatten uns aber etwas aus den Augen verloren. Sabine präparierte einen präzisen Klassenspiegel, damit würde ich die Namen auswendig lernen und jeden Schüler mit dem Vornamen ansprechen. Ferner brauchte ich von 8 – 10 Gymnasiasten besondere Ereignisse aus dem Schülerleben. Diese mussten vor den Sommerferien zurückliegen. Dies, um die allwissende Präsenz von St. Niklaus zu dokumentieren. Es musste der Eindruck entstehen, dass der Niklaus wirklich alles über alle weiss. Am ersten Dezember hatte Sabine alles zusammengestellt und ich begab mich in die Zentralbibliothek. Dort suchte ich die Dissertation meines Kollegen Peter Strickler heraus und studierte seine 30 Jahre zurückliegende Doktorarbeit.
Am Vortag des Niklaus Fests kam mein Bruder nach Gossau. Wir besprachen den Ablauf der Show. Es war Dienstag, der 6. Dezember 1983, als wir kurz nach Zehn ins Chemiezimmer von Peter Strickler traten. Wir übernahmen sofort die Führung und stellten den Unterricht ab. Stickler benahm sich sportlich und verkroch sich auf die hinterste Bank. Nach einer kurzen Begrüssung und ein paar hochgestochenen akademischen Floskeln blickte ich autoritär in die Runde. Zeigte mit meiner weissbehandschuhten Hand auf eine Schülerin, nannte sie beim Namen und bat sie zu mir. Mein Bruder Robert übernahm den clownesken Teil. Er verteilte die Geschenke gespickt mit faulen Sprüchen. Es war ein richtiges Gaudi. Die Kinder genossen das Theater. Die Stimmung steigerte sich zu einem allgemeinen Verblüffen, als Niklaus die Austauschstudentin aus Los Angeles in ihrer Muttersprache aufforderte nach vorne zu kommen. Als dann noch ein Knabe aus Holland beim Klaus ein holländisches Niklausverschen aufsagen musste, war der Höhepunkt erreicht. Schmutzli und ich schritten majestätisch auf den Lehrer zu. Schmutzli kramte eine gute Flasche Rotwein aus seinem Sack, ich zitierte dazu einige Passagen aus seiner Diss. Dann verabschiedeten wir uns.
Peter holte uns auf dem Gang ein. Er war sichtlich gerührt. Das sei das erste Mal in den zwanzig Jahren seiner Lehrtätigkeit, dass er vom Santiklaus besucht wurde. Natürlich hätte er mich sofort erkannt und gewusst, dass Sabine die ganze Übung eingefädelt hatte.
Sabine kam etwas später als gewöhnlich zum Mittagstisch. Robi und ich waren wieder in Zivil. Sabine strahlte über ihr ganzes Gesicht und überschäumte vor Freude. Das war eine gelungene Sache gewesen. Eine Freundin hatte ihr im Stillen anvertraut, sie glaube, es gebe ihn wirklich, den St. Niklaus, der alles wisse.
Mein letzter Auftritt als Samichlaus war bei der Familie von Sabine in Winterthur, als ihr Sohn Seraphim sechs und seine Schwester Xenia vier Jahre alt waren. Mein Ehrgeiz war angestachelt. Es musste alles so organisiert werden, dass ich mich als Grossvater-Niklaus nicht verraten sollte. Dafür wurde ein ganzes Lügengebäude aufgebaut.
Brigitta läutete an der Haustüre. Die Kinder waren schon ganz aus dem Häuschen. Heute kommt der Nikolaus. Sabine hatte eine gute Stimmung vorgelegt. Beide rannten zur Türe und fanden dort nur Brigitta vor. «Wo ist der Grosspapi?» «Der kommt später. Er kommt aus Paris. Sein Flugzeug hat Verspätung.» Daran war man gewohnt. Grosspapi war viel mit dem Flugzeug unterwegs. Er wird schon noch kommen. Dass ich inzwischen in der Waschküche mich bis auf die Unterhosen ausgezogen hatte und mich als Niklaus einkleidete, wussten die Kinder natürlich nicht. Ich gab mir alle Mühe, keine Spuren an meinem Kostüm zu hinterlassen. Keine Armbanduhr. Keinen Siegelring. Weisse Handschuhe. Alte Stiefel. Sauber geschminkt. Falsche Augenbrauen. Falscher Bart. Noch den Bischofsstab und das grosse Buch. Ich kannte mich selbst nicht mehr und ging in den Garten.
Festlich wurde ich vom Vater Dominik empfangen. Ein grosser Stuhl, fast ein Thron, stand bereit. Die Erwachsenen schön im Hintergrund. Erwartungsvoll und etwas ängstlich hatten sich die beiden Kleinen, Seraphim und Xenia, aufgebaut und bestaunten die Szene. Das schwierigste an der Darstellung von St. Niklaus ist das Verstellen der Stimme. Am Anfang geht es in der Regel ganz gut. Mit der Zeit muss man höllisch aufpassen, nicht in die Tagesroutine abzurutschen und sich zu verraten. Alles lief reibungslos. Seraphim wollte lieber ein Liedchen singen als ein Verschen aufsagen. Xenia, die sonst gar nicht auf den Kopf gefallen ist, hatte eine Stoffpuppe bei sich, der sie nervös den Arm ausdrehte. Als der Niklaus sie etwas streng darauf hinwies, immer die Sicherheitsjacke zu tragen, wenn sie in den Kindergarten geht, sprang Seraphim in die Bresche: «Sie hat das nur zweimal vergessen», sagte er zur Verteidigung.
Die Geschenke waren verteilt. Ein Abschlussliedchen gesungen. Der Klaus begab sich zur nächsten Familie. Wieder in der Waschküche war ich sicher, die haben mich nicht erkannt. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, besuchte ich die nächstgelegene Wirtschaft, las dort beinahe die ganze NZZ und kam eine Stunde später «aus Paris« an.
Hochstimmung herrschte. Alle sassen schon um den Tisch. Selbstgebackene Gritibänzen wurden verteilt. »Der mit dem dicksten Bauch gehört dem Grosspapi». Es wurde so richtig entspannt getafelt. Da sagt die vierjährige Xenia, sie hatte ihre angeborene Unverfrorenheit wieder zurückerobert: «Der Grosspapi ist der Samichlaus!» Betretenes Schweigen in der Runde. «Und wir sind alle Prinzessinnen.» Damit wurde die entstandene Spannung gleich wieder abgebaut. Man wand sich anderen Themen zu. Als die Kinder im Bett waren, fragten wir Erwachsenen uns, woran die Kleine mich als Niklaus erkannt hatte.
Das Geheimnis wurde ein paar Tage später gelüftet. Xenia hatte mich an meine Lesebrille erkannt!
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