In etwas mehr als einer Woche werden wir den 1. August, den Bundesfeiertag, begehen. Da gehört es sich, dass neben dem Abfeuern von Raketen und dem Entzünden eines Lagerfeuers auch Ansprachen gehalten werden.
Eine Rede zum Geburtstag unseres Landes ist kein Sonntagsspaziergang. Das habe ich 1991 in Leuk-Stadt am eigenen Leib erfahren. Mir fiel damals die Ehre zu, in meinem Burgerort die Ansprache zu halten. Es war schwierig, das feuchtfröhliche Publikum in Bann zu halten. Auch wenn die Rede kurz war, sie war sicher nicht die Beste, die ich je gehalten habe. Diese Episode kam mir kürzlich wieder in den Sinn, als mir das Manuskript einer 1. Augustansprache von Regierungsrat Gilgen in die Finger kam. Alfred Gilgen war lange Erziehungsdirektor des Kantons Zürich. Er war ein echter Staatsmann, konsequent, fadengerade, grundehrlich und stets dem Wohl des Volkes verpflichtet.
Wir kannten uns aus der Studienzeit. Seither haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Dabei sind wir uns Schritt für Schritt nähergekommen. Es entstand eine gegenseitige Achtung, welche ihren Anfang in den sechziger Jahren genommen hatte. Oft sassen wir zu dritt in der Chemiebar (so nannten wir die Kantine des Chemieinstituts) zusammen.
Das waren Dr.med. Alfred Gilgen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Hygiene und Arbeitspsychologie. Noldi Deuber, Doktorand bei Gilgen und Konsemester von mir, sowie ich selbst, der an seiner Diss am chemisch-technischen Institut kochte. Bei einem Glas Coca-Cola wurde heftig diskutiert. Schon damals ist mir aufgefallen, wie messerscharf Gilgen argumentieren konnte. Ihm gelang es die kompliziertesten Zusammenhänge in verständlicher Sprache, in kürzester Zeit auf den Punkt zu bringen. Jahre später trafen wir uns wieder im Militär. Wir besuchten den gleichen Generalstabskurs in Bern und Fribourg. Als ich dann Präsident der schweizerischen Gesellschaft zur Förderung der Wirtschaft war, entstanden mit Gilgen Kontakte auf wirtschaftspolitischer Ebene. Als wir beide in Rente waren, brachen diese eher zufälligen Kontakte nicht ab. Noch vor nicht all zu langer Zeit war Alfred mehrmals bei uns in Gossau zu Gast. Meine Partnerin Brigitta war eine ehemalige Mitarbeiterin der Erziehungsdirektion. Damals war Gilgen ihr Chef. Sie war es, welche die neuen Kontakte knüpfte. So fanden die hochstehenden Diskussionen aus der Chemiebar mit Gilgen, immer Brissago rauchend, ihre Fortsetzung. Über die vielen Etappen unserer Lebenswege habe ich diesen soliden, ehrlichen Magistraten besser und besser kennengelernt.
Fast ein Vierteljahrhundert diente er als Regierungsrat unserem Kanton und damit seinen Bewohnern. Er regierte, wenn er regierte. Oft eckte er dabei mit seiner direkten Art an. Er war nicht nur beliebt, stets aber unbeugsam. Der wahre Charakter dieses grossen Mannes kommt in einer seiner Ansprachen zum ersten August so richtig ans Licht.
Ich möchte sie Ihnen nicht vorenthalten, lieber Leserin, lieber Leser. Es folgt der ungekürzte Text der besten Rede, die je zum Geburtstag unseres Landes gehalten wurde.
Dr. Gilgen hat das Wort:
Reden am und zum 1. August sind von Politikern gar nicht so gesucht, wie viele Leute meinen. Denn alljährlich wird uns auf vielfältige Weise klargemacht, dass der Geburtstag der Schweiz nur mit schlechten Gewissen gefeiert werden dürfe. Im privaten Bereich würde es wohl keinem Menschen einfallen, einem guten Bekannten den Geburtstag zu vermiesen. Am nationalen Feiertag, der sich nicht selber wehren kann, ist das vielen offenbar ein Bedürfnis, was ich bedaure.
Es ist meiner Ansicht nach durchaus erlaubt, am 1. August zu Problemen der Tagespolitik zu reden: zur Panzerbeschaffung, zum Umweltschutz und zum Waldsterben, zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen, zu den multinationalen Gesellschaften und zu den Höchstgeschwindigkeiten im Strassenverkehr. Ich möchte das heute bewusst nicht tun, sondern ich möchte versuchen, das Verhältnis der Bürger zu Vaterland, Gesellschaft und Staat kurz zu beleuchten. Das soll keineswegs im Sinne einer Belehrung geschehen, sondern vielmehr als ein Stück Analyse und gleichzeitig als ein Bekenntnis aus meiner ganz persönlichen Sicht. Ich möchte meine Gedanken in fünf Punkte gliedern.
Der ersten Gedanken stelle ich unter dem Titel «Ich bin ein Schweizerknabe».
Ich gestehe, dass ich ein ungebrochenes Verhältnis zu meinem Vaterland Schweiz habe. Nicht nur wegen der Schweizergeschichte und nicht nur wegen Wilhelm Tell. Meine vaterländischen Empfindungen brechen auch nicht nur auf, wenn ich fernab im Ausland unerwartet einem anderen Schweizer begegne oder wenn «wir Schweizer» an den Olympischen Spiele eine Medaille gewinnen. Das alles freut mich zwar auch, aber meine Beziehungen zur Schweiz sind ungebrochen, weil ich sie für ein Land mit funktionierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Einrichtungen halte, kurz für ein Land, in dem sich gut leben lässt. Deshalb glaube ich, dass dieses Land verteidigungswürdig ist, und ich bin etwas stolz darauf und dankbar dafür, hier zu sein.
Mein zweiter Gedanke heisst: Können und Wollen.
Unser Land ist, wie die übrige Welt, recht starken Veränderungen unterworfen. Gleichzeitig ist unser Können auf unzähligen Gebieten unerhört gewachsen, und zwar so sehr, dass wir kaum mehr in der Lage sind, die Explosion an Können und Wollen zu bewältigen. Trotzdem haben wir Mühe, gemeinsame Werte und Wertmassstäbe zu finden. Wir sind beinahe ausserstande, eine Übereinstimmung zu finden in dem, was wir Schweizer gemeinsam wollen. Folgende Beispiele mögen das verdeutlichen: Ist die Ehe erstrebenswert oder ist es das freie Zusammenleben oder aber die Grossfamilie? Gibt es eine allgemein anerkannte Vorstellung davon, welches die richtige Erziehung ist? Immerhin: Unser Volk, das heisst wir, haben es so gewollt. Wir wollen eine offene Gesellschaft, eine vielschichtige, oder, um es mit einem Fremdwort zu sagen, eine pluralistische. Keiner sollte in einen sozialen Platz hinein geboren werden und immer dortbleiben müssen. Wir wollen mit dieser Offenheit auch Ansporn für jeden einzelnen geben, wollten Wohlstand für alle und glaubten, damit das Glück für alle zu sichern. Erst hinterher stellen wir fest, dass uns dabei der gemeinsame Nenner verloren gegangen ist. Vielleicht finden wir noch gemeinsame Interessen innerhalb der Berufsgruppe, des Quartiers oder der eigenen Altersklasse. Das genügt aber nicht. Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: Das Rad der Zeit kann nicht zurückgedreht werden, und es wird kein Zurück mehr geben zur kleinen dörflichen Idylle. Wir müssen in der täglichen Auseinandersetzung versuchen, wenigstens einige gemeinsame Ziele zu finden. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Es genügt nicht zu sagen, wir seien für den Frieden. Wir müssen auch sagen, wie ihn zu verwirklichen gedenken. Denn um den Weg zur Sicherung des Friedens kann – wie wir wissen – sehr leicht böser Streit entstehen.
Mein dritter Gedanke lautet: Ist Geben immer seliger als Nehmen?
Es gibt viele Formen des Nehmens. Es gibt den Unverschämten, der im Staat lediglich eine gut geölte Wohlstandsmaschinerie sieht, und es gibt den Raffer, der den Staat nur als eine Milchkuh für sein Wohlergehen betrachtet. Es gibt aber auch den Nehmer, der nur sich selbst verwirklichen will. Es ist zweifellos für jedermann ein durchaus berechtigtes Anliegen, sich sein Leben so zu gestalten, wie er will. Jeder soll schliesslich nach seiner Façon glücklich werden dürfen. Zu einer lebensfähigen Gesellschaft gehört aber auch, dass jeder die berechtigten Interessen und Anliegen der anderen erkennt und berücksichtigt. Wir haben wohl früher die bedenkenlose Ein- und Unterordnung als selbstverständlich hingenommen. Heute ist es umgekehrt. Heute wird das individuelle Glück überbetont; aber sechs Millionen selbstverwirklichte Schweizer garantieren leider noch kein zufriedenes Schweizervolk. Die Frage, welches das richtige Mass an Einzel- und an Allgemeininteresse ist, kann nicht theoretisch beantwortet werden. Jeden Tag und in allen Dingen ist von uns allen neu zu entscheiden, wo die Grenze zwischen der Wahrung der eigenen Interessen und denjenigen der anderen zu ziehen ist. Das ist deshalb so schwierig, weil derjenige , der seine Interessen nicht wahrt, resigniert und verbittert, derjenige hingegen, der nur seine eigenen Interessen vertritt, zum Egoisten wird. Beide der Resignierende und der Egoist, haben keine Zukunft.
Mein vierter Gedanke ist dieser: Nicht nur Gutes tun, auch gut denken.
Ich habe vorhin gesagt, wir müssten versuchen, in der täglichen politischen Auseinandersetzung ein Minimum an gemeinsamen Zielen und Werten zu finden. Wie soll das möglich sein? Es gibt viele Dinge, für die sich andere vehement einsetzen, an denen mir aber gar nichts liegt, die ich also keineswegs ändern möchte. In dieser Situation ist man schnell bereit, den anderen unlautere Absichten zu unterstellen. Ich rede also für Toleranz. Nicht nur für Toleranz bezüglich der freien Meinung, sondern für Toleranz in dem Sinne, dass man dem politisch oder gesellschaftlich Andersdenkenden grundsätzlich auch lautere und redliche Absichten zubilligt. Natürlich weiss ich, dass nicht alle Menschen nur lautere Absichten hegen, aber ich möchte mich täglich bemühen, davon auszugehen, dass die Motive der anderen nicht von vorneherein schlechter sind als meine eigenen. Lassen Sie mich das, was ich meine, an einem Beispiel erläutern: In der heutigen Diskussion um die Reduktion der Geschwindigkeitsgrenzen im Strassenverkehr muss derjenige, der für die Reduktion eintritt, nicht ein verblendeter Umweltschützer sein, der unsere Wirtschaft schädigen will; genau so wenig muss derjenige, für den die Beweise für die ursächlichen Zusammenhänge zwischen der Reduktion der Geschwindigkeitsgrenzen und den Waldschäden nicht genügen, nicht ein rücksichtsloser Umweltzerstörer sein. Wir sollten uns gegenseitig lautere und redliche Absichten wenigstens zubilligen. Ein bisschen mehr guten Willen von Mensch zu Mensch in diesen Belangen ist wohl mehr als die Liebe zur ganzen Menschheit.
Mein fünfter Gedanke lautet: Vielleicht ist Mut doch mehr als nur Angst, die man nicht zeigt.
Die Angst hat viele Gesichter. Es ist hier nicht der Ort, sie zu analysieren. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Angst gehört zum Leben. Für den Philosophen Martin Heidegger ist Angst ein Grundbefinden des menschlichen Daseins. Sie ist für ihn lebensnotwendig und es gilt, sie auszuhalten. Wir dürfen von der Angst reden, aber wir sollten nicht nur von der Angst reden. Wir wissen, dass die Objekte unserer Angst – sei dies die Angst vor der Zukunft, der Arbeitslosigkeit, dem Atomkrieg oder die Angst vor dem Krebs – oft nur vorgeschoben wird, um der allgemeinen Lebensangst einen konkreten Inhalt zu geben und sie so erträglicher zu machen. Wir sollten aber mit Mut und mit Vertrauen in die eigene Kraft unsere Gegenwart und unsere Zukunft an die Hand nehmen. Ich meine, wir müssen versuchen, die Angst nicht zu verdrängen, sondern sie zu überwinden.
Ich habe versucht, fünf Gedanken zu äussern über das Verhältnis des Einzelnen zum Vaterland, zur Gesellschaft und zum Staat; lassen Sie mich diese noch einmal kurz zusammenfassen:
- Ich bekenne mich zu unserem Land.
- Es ist notwendig, ein Minimum an gemeinsamen Zielen und Werten zu finden.
- Das Allgemeinwohl darf nicht vergessen werden vor der Verwirklichung der eigenen Wünsche.
- Auch den Andersdenkenden sind grundsätzlich lautere Absichten zuzubilligen.
- Der Angst muss mit Mut begegnet werden.
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