»Hilfe! Mein Kartoffelgratin ist angebrannt!« Dieser Notschrei meiner Nachbarin, im Süden meiner Liegenschaft wohnend, erreichte mich an einem heiligen Sonntagmorgen, kurz nach elf, anfangs März. Als moderne und besonders praktische Hausfrau machte sie von den Segnungen der automatisierten Küchengeräten rege Gebrauch. Sie hatte den Backprozess ihrer Kartoffelspeise mit der Backofenuhr programmiert. Diese Uhr versagte ihre Pflicht.
Das Land der Uhrenmacher und der Präzision stand im Flammen. Verbrannte Lasagne, verkohlte Flammkuchen, verspätetes Erscheinen am Arbeitsplatz, Bus verpasst, kein Anschluss an die S-Bahn. Eine nationale Katastrophe, welche von Medien genussvoll breit geschlagen wurde: die elektrischen Uhren hatten ihre über Jahrzehnte zuverlässige Pünktlichkeit aufgegeben! Plötzlich, völlig unangemeldet und überraschend gehen sie sechs Minuten nach.
Die meisten Uhren, egal ob Pendülen, mechanische Armbanduhren oder gewöhnliche Taschenuhren, sie alle sind ein bisschen ungenau. Immer beim nächsten Aufziehen werden sie wieder gerichtet. Auch elektrisch betriebene Uhren werden regelmässig auf den rechten Weg der Genauigkeit zurück gewiesen. Nur merkt das der Normalbenutzer nicht. Diese Aufgabe übernehmen die Funkuhren durch ein gesendetes Signal. Die billigeren Versionen, sie basieren auf die Frequenz des elektrischen Stromnetzes, werden von den Herstellern der elektrischen Energie gesteuert. Die Schwingungen des Wechselstroms, 50 Oszillationen pro Sekunde, 50 Hertz also, werden von den Stromversorgern im ganzen europäischen Netz genauestens überwacht und geregelt. Damit ist die Ganggenauigkeit von Radiowecker, Mikrowellengeräten und Backöfen gewährleistet.
Die Zeit am Herd stimmt immer! Eben nicht, wie der Notschrei meiner Nachbarin manifest belegte. Plötzlich hat sich da eine Ungenauigkeit eingeschlichen. Es begann Mitte Januar. Die Uhren gingen immer langsamer. Zuerst völlig unbemerkt, bis sich im März eine Verspätung von sechs Minuten eingestellt hatte.
Dies nur, weil sich zwei Verantwortliche im Stromversorgungsnetz in die Haare gerieten: Serbien und Kosovo. Ein Machtkampf zwischen Belgrad und Pristina. Kosovo speiste zuwenig Strom in Serbiens Netz. Auf der anderen Seite glich Serbien die entstandene Frequenzabweichung nicht aus. Beide Seiten schoben sich gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe. In Europa verloren die Synchronuhren die Orientierung. Pristina brachte Europa aus dem Takt. Die Streithähne haben sich dann nach drei Monaten geeinigt. Die Frequenz ist wieder im Griff. Die Zeit wird wieder richtig angezeigt. Der Pendler verpasst seinen Zug nicht mehr.
Das Stromnetz für Europa ist ein kompliziertes System. Die verschiedensten Akteure sitzen überall verteilt, an den Zapfstellen und Regelgeräten. Sie sollten für völlige Harmonie im Netz sorgen. Die Ereignisse der Frequenzschwankungen haben gezeigt, wie sensibel das Netz auf solche Abweichungen reagiert. Wenn sich nicht alle an die Vereinbarungen halten, gibt es ein Chaos.
Auch das Trinkwassernetz, das Erdgasnetz, das Netz des öffentlichen Verkehrs oder das Benzinversorgungsnetz, sie alle können empfindlich gestört werden. Auch wenn diese nicht direkt von den Stromproduzenten gesteuert werden. Innert Tagen kann die Versorgung ausfallen. Viele von uns erinnern sich noch an die Warteschlangen vor den Tankstellen während der Erdölkrise 1973.
Das sollten wir nicht vergessen.
Je grösser der Fortschritt, umso grösser auch die Möglichkeit von Pannen. Alle grossen Systeme, das gilt zum Beispiel auch für die Betriebssysteme von Computern, sind fragil und damit pannenanfällig.
Alle erwähnte Netze sind von Menschenhand geschaffen. Da der Mensch nicht vollkommen ist, sind es die Netze auch nicht.
Dem ist so. Jeder Einzelne hat seine eigenen, kleinen Defizite. Da sollten uns sechs Minuten Abweichung von der Weltzeit nicht aus dem Konzept werfen.
PS: Wie um die Aussage in der Kolumne zu belegen, finde ich folgende Meldung im Tages Anzeiger von heute, 30. April 2018:
AMSTERDAM, CHAOS AM AIRPORT
Ausgerechnet zum Ferienanfang musste der Amsterdamer Flughafen kurzzeitig geschlossen werden. Nach dem Ausfall von zwei Hochspannungsleitungen war im Südosten der Stadt gestern die Stromversorgung unterbrochen. Rund 18 000 Haushalte waren davon betroffen. Auch das Einchecksystem auf dem Airport. Dutzende von Flüge fielen aus. Vor den Schaltern bildeten sich so lange Warteschlangen, dass der Betrieb vorübergehend eingestellt werden musste. Die Zufahrten zum Flughafen wurde gesperrt (SDA).
Ein grosses, fragiles System, eben!
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