Als mein Bruder und ich noch zur Schule gingen, spielte sich nach jedem Mittagessen in unserer Küche das gleiche Ritual ab. Immer die gleiche Leier, sogar am Sonntag. Die Mutter spülte das Geschirr. Wir trockneten es ab und versorgten es im Kasten. Fünf Mal sechs? Drei Mal neun? Sieben Mal acht? Meine Mutter stellte die Fragen. Wir mussten zeitverzugslos antworten. Dreissig, siebenundzwanzig, sechsundfünfzig. Es war das erste Gedächtnistraining, an das ich mich erinnern kann.
Im Klassenzimmer ging es weiter. Ellenlange Balladen von Schiller und Goethe, «Die Glocke» oder «Der Erlkönig», wurden auswendig gelernt und stundenlang abgefragt. «Das Grosse Balladenbuch», ein nicht mehr wegzudenkendes Schulbuch, schleppten wir täglich in unserer Mappe zur Schule und zurück. Es sollte uns nicht aus der Übung bringen, die Perlen der deutschen Dichtung stets und überall vortragen zu können.
Mein Banknachbar in der Kanti war damals schon ein guter Schachspieler. Er wohnte in Erstfeld und war dort geachtetes Mitglied des Schachklubs. Er erzählte, er hätte gegen den Schweizermeister in einer Simultanpartie gespielt. Von den zwölf Klubmitgliedern hatte keiner eine Partie gewonnen. Neunmal matt und dreimal remis. Beeindruckend war, dass der Schachmeister, als er von den Mitspielern zur Heimreise zum Bahnhof begleitet wurde, alle gespielten Partien im Kopf hatte. Jedem konnte er, Stunden später, noch Ratschläge erteilen. «Sie hätten die Dame nicht nach d5 verschieben sollen.»
Die Novelle, die Stefan Zweig über das Schachspiel auf dem Passagierdampfer auf dem Weg von New York nach Buenos Aires geschrieben hatte, erzählt von einem österreichischen Emigranten, der ein Gedächtnis hatte wie ein Elefant. Das Buch war zu der Zeit zuoberst auf der Hitliste und wurde von uns Gymnasiasten verschlungen.
Wir hatten eine grosse Bewunderung für alle solche Gedächtnisgenies. Auch die Schauspieler, die den ganzen Part in der Komödie von Oscar Wilde, Lady Wintermeres Fan, nur so abrufen konnten, hatten unsere Ehrfurcht. Sollte es bei einer Aufführung irgendeinmal zu einem Hänger kommen, war da immer noch die Souffleuse.
Nicht alle Menschen haben solch gute Gedächtnisse. Oft lässt es einem im Stich. «Wo ist jetzt meine Lesebrille geblieben?» «Hat jemand mein Handy gesehen?» «Gestern lag der Autoschlüssel noch auf der Kommode.» Vergessen gehört zum Erinnern.
Dann auf der Strasse. Da kommt eine Dame entgegen, die ich gut kenne. Eine Gelegenheit für ein Kompliment und einen kleinen Schwatz. Nur, wie heisst die Lady? Eveline? Nein, Elvira? Auch nicht. Es liegt mir auf der Zunge und will nicht weiter.
Man trifft jemand in der Pause in der Tonhalle und der Name ist weg. Bei mir kommt das oft vor. Ich habe dann eine Strategie auf Lager, der Peinlichkeit zu entgehen. «Wie schön Sie auch hier zu treffen. Wie geht es Ihnen? Herrlich diese Musik.» Und immer weiter so. Blablabla. Wieder im Saal. Der Dirigent steht noch nicht am Pult. Alle, die Musiker und der Saal, warten auf den Chef. Mäuschenstill. «Natürlich das war Doktor Schmidt aus Küsnacht in der Pause». Applaus. Auftritt des Orchesterchefs.
In unserer Familie sprachen wir immer drei Sprachen durcheinander. Über diese Babilonika habe ich schon einmal berichtet. Wenn man etwas tiefer in das Funktionieren des Gedächtnisses eintaucht, stellen sich Fragen. Wie bringt das Hirn es fertig, uns beim Sprechen so zu unterstützen, dass immer das richtige Wort in der richtigen Sprache zur Verfügung steht, damit wir uns fliessend unterhalten können? Irgendwo im Kopf muss ein riesiges Wörterbuch vorhanden sein, in dem während des Gesprächs alle nötigen Vokabeln nachgeschlagen werden. «Selbstverständlich,» werden Sie, liebe Leserin, sagen, «alles, was wir in der Schule und im Leben gelernt haben, tragen wir mit uns herum und können es immer und überall, wenn wir es brauchen, abrufen.»
Fast immer.
Da fällt mir Onkel Ferdi, der Zwillingsbruder meines Vaters, ein. Er wollte mir einmal auf einem Spaziergang erklären, welche Bäume in der Umgebung der Barbarakapelle besonders gut gedeihen. Es kam ihm nicht in den Sinn. Das ärgerte ihn gewaltig. Er blieb stehen, stampfte mit dem Fuss, die Tannenzapfen flogen in alle Richtungen. «Hansi, das wird immer schlimmer. Ich vergesse bald alles!» Die Vergesslichkeit des Onkels hatte sich in der Familie herumgesprochen. Sie wurde immer manifester. Arterienverkalkung nannte man das damals. Heute spricht man eher von Alzheimer oder Demenz. Gedächtnisverlust im Alter.
Als ich an einem meiner Spaziergänge durch den Wald von Gossau unterwegs war, stach mir ganz unerwartet der Geruch von gutem Pfeifentabakrauch in die Nase. Vor mir war der längst pensionierte Bundesrat Brugger aufgetaucht. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er nicht mehr zu Hause wohne. Von Zeit zu Zeit überfiel ihn ein totaler Filmriss. Die Ärzte sprachen von Demenz. Er brauche eine 24-Stundenpflege. «Sie wissen nicht, wie das ist Herr Werra. Plötzlich ist die ganze letzte Woche weg. Keine einzige Erinnerung mehr. Monate lang kann ich so leben wie früher und dann unangemeldet wieder ein Blackout. Der kann Wochen dauern. Wenn ich aus diesem Zustand wieder zu mir komme, gibt es für mich keine Vergangenheit mehr. Das ist eine Qual. Das ist wie eine Folter.»
Dieses Gespräch habe ich nie mehr vergessen. Dieser aufrechte Bundesrat von altem Schrot und Korn. Dieser Regierungsmann, der damals die Konjunktur zuerst ankurbeln musste und später, weil sie zur Überhitzung tendierte, wieder abstoppen musste, ist heute ein Wanderer mit grossen Gedächtnislücken.
Mit zunehmendem Alter wird auch mir bewusst, wie wichtig das Gedächtnis für die Bewältigung des alltäglichen Lebens ist. Es begleitet uns immer. Ist immer zur Stelle. So selbstverständlich wie bisher gemeint ist das nicht. Plötzlich ein Durcheinander in Ort und Zeit. Nicht mehr wissen, wo man gerade ist und warum. Wenn man dessen gewahr wird, muss das ein Schock sein.
Eine gewisse Vergesslichkeit kennt jeder. Auf einmal steht man im Arbeitszimmer und weiss nicht mehr warum. Zurück in die Küche. Natürlich, ich wollte das Kochbuch holen. Wenn gelegentlich eine solche Situation eintritt, ist man schon ein bisschen beunruhigt. Ist da Alzheimer im Anzug? Mein Hausarzt beruhigte mich beim letzten Besuch. «Solange Sie denken können, sie hätten Anzeichen von Demenz, ist keine Gefahr in Sicht.»
Seither habe ich ein Gedächtnistraining für mich ganz persönlich ausgedacht. Um den Wareneinkauf für meinen Haushalt störungsfrei erledigen zu können, lerne ich zu Hause den Poschtizettel auswendig. Wenn dann alles wieder lückenlos beschafft und vollständig im Kasten liegt, fällt mir das Einmaleins-Ritual von früher in Mamas Küche ein.
Das war nicht nutzlos gewesen.
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