1779
Ferdinand ist neun Jahre alt. Er sitzt zusammen mit seinem grossen Bruder auf der Bruchsteinmauer des Johanniterturms, nicht weit vom Pfarrhaus entfernt. Dort unterrichtet Pfarrer Gottsponer fünf Knaben aus der Burgschaft. Folgen- de Fächer werden behandelt: Christenlehre, Lesen und Schreiben, Rechnen und Latein. Der hochwürdige Herr Pfarrer leitet die Pfarrei- und Lateinschule des Dorfs. Bis heute konnten Adlige, Notabeln, Notare, Ärzte und die Geist- lichkeit lesen und schreiben. Das Volk behalf sich im Alltag mit Haus- und Familienzeichen. Die grosse Mehrheit der Erwachsenen war Analphabeten. Sie konnten weder schreiben noch lesen. In Salgesch konnten nur der Pfarrer, der Geometer und der Notar sich schriftlich ausdrücken. Dazu kamen noch adlige Männer und Vorstände von angesehenen Familien. Diese schickten ihre Kna- ben zum Pfarrer in den Unterricht. Für die Geistlichen hatte das zwei Vorteile. Einerseits konnten sie ihren Einfluss auf den Nachwuchs der Elite wahrnehmen und sie in den Katechismus, die Christenlehre und in Latein einführen. Ander- seits lernten die Jungen nebenbei Schreiben, Lesen und Rechnen. Die meisten von ihnen besuchten im Anschluss an diese Basisausbildung das Internat des Kollegiums Spiritus Sanctus in Brig. Für die männlichen Nachkommen von Johann Jakob Alex Werra war es eine abgemachte Sache. Sie mussten die Ma- tura in Brig bestehen, um einen Universitätsabschluss zu erlangen. Das war die Voraussetzung, um standesgemäss leben zu können. Ein Privileg, welches die Werras aus Salgesch nicht für sich in Anspruch nehmen konnten. Sie wären eigentlich in Leuk angesiedelt. Dort wohnten die Reichen des Familienstamms. Ein Vorfahre von J. J. Alex hatte in die Familie Balet eingeheiratet. Die Balets stellten in Salgesch regelmässig die Prokuratoren.
Damit waren sie eine einflussreiche und das Dorfleben prägende Familie. Aber Salgesch ist nicht Leuk-Stadt.
Salgesch mit Blick auf den Pfynwald
Der Grossvater von Ferdinand stammt aus der grossen Familie von Johannes Gabriel in Leuk. Dieser hatte 12 Kinder, wovon Grossvater Johann Joseph Alex. Dieser fand, es gäbe keinen Platz für ihn in der Stadt. Am Leichenmahl zur Be- erdigung von Johann Gabriel sassen J. J. Alex und Anna Christina Balet neben- einander. Wie es so geht bei Bestattungen, mit fortgeschrittener Zeit wurde die Trauergesellschaft immer fröhlicher. Der Walliser Wein tat sein Übriges. Alex und Christina fanden Gefallen aneinander. Ein Wort gab das andere. Ein Jahr später fand die Hochzeit in Salgesch statt. Alex war am Ziel seiner Wün- sche. Die Familie Balet war vermögend. Alex konnte das Leben eines begüter- ten Edelmannes führen. Geldsorgen brauchte er sich keine mehr zu machen. Den Preis, den er für die gute Partie zahlte, war der Auszug aus Leuca fortis, der Stadt im Wallis, wo die Musik gemacht wurde. Er musste in Kauf nehmen, jetzt in einem verschlafenen, heruntergekommenen Nest, in Salgesch, gelandet zu sein. Damit ist auch erklärt, dass Ferdinand in Salgesch geboren wurde und dort den Schulunterricht beim Dorfpfarrer besuchte.
«Mir ist aufgefallen, Alex, dass du von den biblischen Geschichten in der Christenlehre begeistert bist.»
«Stimmt, mich interessieren die Personen in den Geschichten, und ich denke mir oft, wie es wohl wäre, wenn Jesus heute unter uns leben würde.»
«Das ist ja alles Vergangenheit. Das ist alles vorbei. Was mich interessiert ist, wie geht es weiter. Beim Katechismuslesen langweile ich mich zu Tode.»
«Warum gehst du dann überhaupt in den Unterricht, Brüderchen?»
«Weil es eben so ist. Weil es ohne Bildung, ohne Latein und Schreiben und Lesen nicht geht. Hast du schon einmal einen Notar oder einen Doktor gesehen, der nicht lesen kann?»
«Natürlich! Wir gehören zu der Oberschicht. Wenn wir dort mitmachen wollen, kommen wir um die Matura und die Universität nicht herum.»
«Und dann muss man noch heraus aus Salgesch, diesem Kaff. Heraus nach Raron, Brig oder Leuk.»
«Schon gut. Aber hast du vergessen, dass es auch noch Geld und Vermögen braucht?»
«Das ist es ja, was bei uns in grossem Mass fehlt. Grossvater Alex hatte das begriffen. Er ist aus Leuk heraus und hat hier ein Vermögen geheiratet. Leider ist davon nichts mehr übrig.»
«Es ist ein Jammer. Wir sind ganz schön heruntergekommen. Nur noch eine einzige alte Stute im Stall. Nicht einmal ein richtiger Stallknecht. Wären da nicht Viktor, der alles in einem ist, Stallknecht, Rebmeister, Kutscher ohne richtige schöne Kutsche, und die Köchin und die Magd, wir hätten überhaupt kein Personal. Nennst du das einen gepflegten, noblen Haushalt?»
«Ferdi, höre auf zu meckern. Wir leben in einer guten Familie. Wir leiden nicht an Hunger. Wir haben ein gutes Dach über unserem Kopf. Was willst du mehr?»
«Alex, wir leben nicht standesgemäss. Wir unterscheiden uns nicht von der Familie des Bäckers. Ich will mehr. Ich will Luxus. Ich will Prunk. Wie einst unser Vorfahr Johannes der Prächtige, der den Majorshof in Leuk gebaut hat.»
«Wenn du dorthin willst, mach erstmal, dass du überhaupt nach Brig ins Kollegium kommst!»
»Das schaffe ich schon. Nächstes Jahr wirst du dort schon einziehen. Bei mir dauert das noch drei Jahre. Alex, schau mal, die Katze von Frau Cina ist trächtig.«
«Woher weisst du, dass das die Katze von den Cinas ist?»
«Die wohnt in Cinas Stall. Wenn sie geworfen hat, frage ich Frau Cina, ob ich eine haben könnte. Ich hätte gerne einen eigenen Tiger in unserem Zimmer.»
«Spinnst du? In meinem Zimmer …»
«…unser Zimmer …»
«In unserem Zimmer bekommt eine Katze kein Wohnrecht. Katzen gehören in den Stall und haben Mäuse und Ratten zu fangen und zu töten.»
«Ich glaube, zu Hause, im Hof, ruft unsere Pflicht. Wenn wir genügend Per- sonal hätten, bräuchtest du nicht Holz zu spalten und ich müsste den müden Gaul nicht putzen und bewegen.»
Die zwei schlenderten dem Hof zu. Viktor kam ihnen entgegen. «Alles be- reit zum Holzspalten. Lisa sollte auch noch bewegt werden.» Ferdinand ging schnurstracks in den Stall. Lisa begrüsste ihn, indem sie den Kopf hob. Sofort bekam sie einen Apfel. Im Stall stand ein Korb voll Fallobst. Ferdi führte Lisa auf den Sattelplatz und entfernte den Halfter. Lisas Mähne wurde von allen alten Haaren befreit und gekämmt. Dasselbe geschah mit dem Schwanz. Mit Schwamm und Wasser wurden die Pferdefüsse gewaschen. Zuerst die Hinter- hand, dann die Vorderhand. Seit Ferdinand laufen konnte, war er im Stall an- zutreffen gewesen. Als Dreijähriger setzte ihn Viktor in den Sattel und ritt mit ihm vorsichtig übers Feld. Von Viktor hatte er alles gelernt. Richtig im Sattel sitzen. Das Zaumzeug anziehen. Zum sechsten Geburtstag ritt er zum ersten Mal allein auf Lisa. Neben ihm ritt Viktor. Er hatte beim Geometer ein Pferd dazu ausgelehnt. Heute war Ferdinand längst so weit, dass er mit Lisa allein ausreiten konnte. Lisa war schon eine alte Dame. Sie ging ruhig im Tritt und machte keine ungewohnten Sprünge mehr.
Sauber geputzt stand Lisa da und kaute zufrieden an ihrem Apfel. «Du solltest Lisa nicht so verwöhnen», kritisierte Alex, als er dem kleinen Bruder half, den Zaum anzuziehen und den Sattel festzuzurren. «Sie ist halt ein Schleckmaul», antwortete Ferdi, als er aufsass. Vorher hatte er das Lederzeug gefettet und die Steigbügel poliert. Im Trott ging es zum Hof hinaus. Zuerst immer eine Runde durchs Dorf und dann um die Kirche herum. Es lag Ferdinand viel daran, von den Einwohnern zu Pferd gesehen und gegrüsst zu werden. Dann kam er sich wie ein Edelmann vor, aufgerichtet auf dem Pferderücken sitzend und die Fussgänger grüssend. Dass sich alle hinter seinem Rücken über sein Gehabe lustig machten, bemerkte Ferdinand nicht. Wenigstens tat er so. Es kränkte ihn, dass er nicht die Kleider eines Edlen trug. Er besass weder Reithosen noch Reitstiefel. Hoch zu Ross, in seinen Werktagskleidern, kam er sich vor wie Don Quichotte. Die Geschichte dieses armen Rittersmannes aus Spanien hatte ihm Bringfried Constantin, der Sohn des Notars, erzählt. Das war letzten Sommer in den Kollegiumsferien gewesen. Bringfried war schon zwei Jahre auf dem Kollegium.
Inzwischen war Ferdinand mit Lisa wieder zurück im Dorf. Am Dorfbrunnen durfte Lisa sich laben. Ferdi blieb im Sattel und schaute in die Runde. Er wollte sichergehen, dass alle, die da ihrer Arbeit nachgingen, ihn auch wirklich ge- sehen hatten.
Zurück im Hof, half ihm Viktor aus dem Sattel. Zusammen nahmen sie Zaum und Lederzeug ab. Ferdinand legte Lisa behutsam den leichten Stallhalfter an und begann sie abzureiben, zu waschen und zu bürsten. Mit einer Rossdecke zugedeckt, wartete die Stute geduldig, bis Ferdi die Box geputzt hatte und fri- sches Stroh den Boden bedeckte. Auch standen Wasser und Hafer bereit, um Lisa zu empfangen. Zum Abschied gab es noch ein paar Klapse auf den Hals und erneut einen Apfel ins Maul. Alex war mit den Holzarbeiten so weit, dass sie zusammen zu Ludwina in die Küche gehen konnten. Unterwegs wollte Fer- dinand wissen, wie es eigentlich mit dem Schloss im Tal des Rotten, dem alten Mageranschloss in Agarn, stehe.
«Das Schloss gehört effektiv uns. Papa hat mir gesagt, es sei unbewohnbar. Eine Wiederinstandstellung koste ein Vermögen. So viel Geld haben wir leider nicht. So bleibt unser Schloss unbewohnt und vergammelt mit der Zeit.»
«Sic transit gloria mundi.»
«Du bist ja richtig gut in Latein, Brüderchen.»
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