Die Kaiserin Maria Theresia soll einmal zu Ihrem geheimen Staatsekretärs Johann, Baron von Bartenstein gesagt haben: «Wenn wir in anderthalb Jahren immer noch nichts von unserem Botschafter in Spanien gehört haben werden, müssen wir jemanden hinschicken.» Das war in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Wien. Anderthalb Jahre Zeit für einen Schriftwechsel!
Eine Unvorstellbarkeit für mich, als ich Mitte des 20. Jahrhunderts bei Polymetron in Glattbrugg arbeitete. Da waren andere Geschwindigkeiten gefragt. «Ein Brief wird in der gleichen Woche beantwortet» und «Die Post muss reisen, wenn der Kaufmann schläft». Jeden Abend musste die geschriebene Korrespondenz auf die Post.
In der Praxis hiess das damals bei Polymetron, für einen Schriftwechsel standen ein paar Tage zur Verfügung, Zeit sich Gedanken zu machen, um eine Anfrage, z.B. aus Dänemark, fachkundig zu beantworten.
Heute, drei Generationen später, startet Anton Ammann bei Arbeitsbeginn seinen PC. Siebenunddreissig Sekunden später wird er am Bildschirm von einer Vielzahl von Meldungen überschüttet. Während er die ersten Meldungen – heute gibt es keine Briefe mehr – nur überflogen hat, strömen bereits weitere neue E-Mails hinein. Die Arbeit ist getaktet durch den Fluss der elektronischen Post. Vorbei die Zeiten, wo anderthalb Jahre, oder auch nur eine Woche Zeit zur Verfügung standen, um die Informationen zu bearbeiten. Alles ist fest im hyperaktiven Hamsterrad der Arbeitswelt eingespannt.
Heute muss alles sofort hinaus. Sofort heisst sofort. Beeilung! Beeilung!
Die Gebräuche der Erledigung der Geschäftskorrespondenz haben sich geändert, davon weiss Ammann ein Liedchen zu singen. Vorbei die Zeiten, als ein berittener Kurier durch das Land jagte. Vorbei die Zeiten, wo der Brief noch verpackt und frankiert wurde. Alles vorbei.
Genau eine Sekunde geht es heute, bis eine Mail von uns in Canberra / Australien angekommen ist. Das ist der Fortschritt von heute: die elektronische Datenverarbeitung. Der Absender, in unserem Fall Per Pederson aus Dänemark, erwartet umgehend eine Antwort. Nur: Toni Ammann weiss nicht Bescheid. Vielleicht kann Emma Egger ihm helfen, schliesslich geht es um Mehrwertsteuer. Emma hat gerade keine Zeit und schreibt Toni, Peter Plüss in der Finanzabteilung sei der Experte. Inzwischen quillt ein zweites Mail aus Dänemark aus dem Drucker. Pederson braucht augenblicklich eine kompetente Antwort. Es geht um eine grosse Bestellung. Endlich kommt die Erlösung, Küde Keller kennt sich aus, er wurde von Peter Plüss per Mail ins Bild gesetzt. Die notwendigen Instruktionen wurden Per Pederson auch per Mail übermittelt. Jetzt kann Per in Dänemark weiterarbeiten.
Weiter geht es. Beeilung! Anton Ammann hackt auf der Klaviatur seines PCs herum, um den gestapelten Berg von Pflichten abzubauen.
Abends um halb sechs ist Feierabend. Der PC ist heruntergefahren. Die Mitarbeiter strömen nach Hause. Toni Ammann will gerade in seinen Opel-Kadett steigen, da sieht er Philipp Pfister seinen Renault R4 öffnen. Pfister ist ein Dienstkamerad von Ammann. «Hallo Philipp, ich wüsste nicht, dass Du auch bei uns Deine Brötchen verdienst.» «Da steht ja Toni Ammann, lange nicht mehr gesehen. Arbeitest Du auch hier?» Die Firma ist nicht so gross, 60 Angestellte vielleicht. Beide Kameraden arbeiten schon länger hier. Auf dem Nachhauseweg treffen sie sich zum ersten Mal auf dem Parkplatz.
Waren das noch Zeiten, als man früher «auf den Kilometer ging». Ein laufender Begriff damals vor vielen Jahrzehnten bei Roche in Basel. Darunter verstand man den Vorgang, den Arbeitsplatz zu verlassen, um einen Kollegen, der in einem anderen Bau arbeitete, etwas zu fragen. Als Tarnung für den Feldzug trug man ein paar Akten mit sich herum. Auf dem Kilometer wurde immer etwas erledigt. Martin Moser war für den Kilometer besonders geeignet. Er kannte viele in der Firma. War er doch engagierter Fasnächtler und kompetenter Fussballexperte. Martin liebte diese Botengänge. Als er ins Labor zurückkam, wusste er viel zu Berichten. Tipps für unsere Carotinsynthesen. Einige Akten für den Chef hatte er en passant auch noch aufgegabelt. Mit dem Glasbläser Gusti Grob hat er sich lange über den letzten Fussballmatch unterhalten. Gute Beziehungen mit dem Glasbläser waren wichtig. Diese mussten bewirtschaftet und gepflegt werden. Allzu oft zerbrach ein Glasgefäss im Labor. Immer jenes welches am dringendsten gebraucht wurde. Da zahlten sich gute Beziehungen zur Glasbläserei aus. Diesmal war er länger mit Tamara Tanner im Gespräch gewesen. Tamara war nicht nur ein schönes Fräulein – so durfte man damals junge Damen noch ansprechen – vor allem war sie die Chefin der Telefonzentrale. Moser hatte immer eine kleine Flasche mit Essigester bei sich. Essigester ist besser als jeder Nagellackentferner. Dafür schaltete sie uns, wenn wir aus dem Labor nach aussen telefonieren wollten, einen Summton.
Heute ist der Kilometer aus dem Büroleben verschwunden. Solch ein Zeitvertreib auf Kosten der Arbeitszeit wird als Verschwendung abgestraft. Das verringert die Produktivität. Geradezu eine ökonomische Todsünde. Alles muss schnell gehen, muss wirtschaftlich und effizient sein, wenig Zeit beanspruchen. Nur keinen Leerlauf. Beeilung! Beeilung! Fast alles wird vom Arbeitsplatz aus erledigt. Jeder Mitarbeiter ist per E-Mail und Internet erreichbar. Der Mensch, der Mitarbeiter ist ein mechanischer Teil einer vorbildlichen geölten Maschine. Die Maschine, eigentlich die betriebswirtschaftliche Organisation der Firma, ist es die Anton Ammann mit einer geschickt gestrickten Software, wie ein achtarmiger Tintenfisch, in sich eingebunden hat. Welch ein Fortschritt!
Vor ein paar Wochen war ich an eine Doktorfeier eingeladen. Die ganze Intelligenzia war da. Man traf sich an Stehtischen und tauschte Informationen aus. Stefan Stamm war Graphologe. Er erklärte mir, er habe fast keine Arbeit mehr. Die jungen Leute schreiben nichts mehr von Hand. Die Grundlage seines Berufes, das Erstellen von graphologischen Gutachten, gehöre der Vergangenheit an. Die jungen Leute könnten kaum noch mit einer persönlichen Handschrift eine Notiz schreiben. Alles ginge heute per Tablet und Laptop. Nach einer halben Seite A4 von Hand geschrieben, hätten die Leute den Krampf im Unterarm und könnten nicht mehr weitermachen. Das war richtig neu für mich. Ich war beeindruckt von diesem Strukturwandel in der Gesellschaft. Es kam noch besser, Stefan hatte von einer Geschichte aus dem Silicon-Valley, der Geburtsstätte des Computers und der künstlichen Intelligenz, gehört. Dabei ging es genau um das Umgekehrte.
Ein Inhaber einer Softwarefirma in Santa Barbara County hielt es nicht mehr aus, dass alle seine Mitarbeiter sich während einer Besprechung hinter den Bildschirmen ihrer Laptops unsichtbar machten. An der nächsten Sitzung schenkte der Chef jedem Mitarbeiter ein Moleskine Notizbuch. Jedes mit einem goldgeprägten eigenen Namen versehen. «Ab heute,» so verkündete er, «möchte ich keine elektronischen Geräte mehr an unsere Sitzungen sehen. Ich bitte Sie, von Hand Notizen zu machen. Damit verspreche ich mir eine Steigerung unserer Kreativität.» Keiner sagte ein Wort. Von Begeisterung keine Spur. Auch keine Gegenrede: Was der Chef will, das muss gemacht werden.
Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten stellten alle fest, dass der Informationsfluss unter den Kollegen immer besser funktionierte und der Erfolg des Unternehmens deutlich anstieg. Man entdeckte etwas, was schon lange bekannt, aber in Vergessenheit geraten war. Der Mensch braucht für einen guten Gedankenaustausch den persönlichen Kontakt mit seinem Gesprächspartner. Es kommt nicht nur auf die Wörter an. Der Tonfall der Stimme, die Gestik, die Körpersprache, das alles sind wichtige Teile einer Unterhaltung. Die Produkte der modernen Kommunikation mit dem PC und dem Smartphone waren ursprünglich nur für das Festhalten von Gedanken und Ideen gedacht. Dass die Maschinen sich weiterentwickelten und sich heute für eine Vielzahl von Arbeiten anwenden lassen ist natürlich.
Im Grunde besteht kein Unterschied, ob man mit einem Griffel auf einer Schiefertafel, mit einem Bleistift auf einem Blatt Papier, mit dem Kugelschreiber in ein Notizheft schreibt, einen Text diktiert oder den Kühlschrank mit gelben Post-it-Zettelchen vollklebt. Es geht immer darum einen Gedanken festzuhalten, um Wissen zu parkieren.
Heute kann der PC einfach alles. Briefe schreiben, Fernsehen, bei Wikipedia Wissen nachschlagen, ein Hörbuch geniessen, Strategiespiele abwickeln, Musik hören, Filme sehen und vieles mehr. Es ist ein Raum / Zeit – Problem. Vor dem Einzug des elektronischen Rechners war man unterwegs. In der Bibliothek, um etwas in einem Lexikon nachzuschlagen. Im Kinderzimmer, um Monopoly zu spielen. In der Stube, um die Nachrichten zu sehen. Im Arbeitszimmer, um Zeitung zu lesen und Sudoku zu lösen. Heute geht das alles, ohne vom Arbeitsplatz aufzustehen.
Das ist neu.
Niemand ist mehr fest an einen Platz gebunden, um Aufgaben zu erledigen. Egal, ob von Zuhause aus, vom Büro aus, aus der Badeanstalt oder aus der Eisenbahn. Von überall lässt sich die Post lesen und bearbeiten. Kein «auf den Kilometer gehen» mehr.
Wenn etwas neu ist, beobachtet man immer zwei Tatsachen. Es fehlt an Erfahrung und es entsteht Abfall. Bei der Automatisierung der Weberei im 17. Jahrhundert gab es anfänglich mangels Erfahrung im Umgang mit der Neuheit viel Unbehagen. Und aus dem Abfall, meistens Lumpen, wurde Papier hergestellt. Das war der Startschuss für den Buchdruck. Woraus sich die moderne Massenkommunikation entwickelte. Ein riesiger gesellschaftlicher Umbruch.
Mit dem erfolgreichen Vormarsch der Verwendung von Computern in allen Lebenslagen, befinden wir uns heute in einer sehr ähnlichen Situation des Umbruchs. Die neuen Möglichkeiten der Kommunikation erzeugen mangels Erfahrung Unbehagen. Auch heute gibt es Abfall: die riesengrossen Mengen von Informationen welche unmöglich alle auf ihren Inhalt geprüft und bearbeitet werden können. Wird sich aus diesem Abfall, ähnlich der Buchdruckerkunst, ein neuer Industriezweig entwickeln? Das sich etwas entwickeln wird halte ich für gewiss. Was es sein wird? Das ist schwieriger. Vorerst wird es viel Zeitverlust geben, was auch Abfall ist. Die Zeit die auf Google, Netfix oder YouTube verbracht wird, muss endlich positiv und nützlich werden. Beeilung ist hier ein schlechter Ratgeber. Es wird zwar noch eine Weile dauern, aber dieser Gesinnungswandel wird kommen.
Es werden die leitenden Personen sein, welche die notwendigen Innovationen ins Leben rufen werden. Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Unternehmer. Ihnen wird es gelingen den Abfall zu verwerten. Sie werden dafür sorgen, dass die Zeit sinnvoll verwendet wird. Das Smartphon, zum Beispiel, wird dabei zu einem normalen Werkzeug im alltäglichen Gebrauch herabgestuft werden. Ähnlich wie heute der Kochherd oder der Staubsauger.
Was
als Resultat übrigbleiben wird, ist eine enorme Effizienzsteigerung. Damit wird
der Zeitdruck abnehmen. Von Beeilung keine Spur mehr. Einfach die Zeit sinnvoll
einsetzen.
Wir müssen ja nicht gleich zurück zu Maria Theresia.
Etwas mehr nützliche und sinnvoll eingesetzte Zeit zum Denken bevor wir zu schreiben beginnen, wäre gut.
Nachtrag
Für
alle die wissen, dass die Basler Fasnacht wieder vorbei ist und die darüber
hinaus Baseldyytsch lesen und verstehen können, einen Vers vom Schnitzelbängger
«D’Schnapsbagge» an der diesjährigen Fasnacht zum Thema:
Ych mäld dr Frau uff Facebook,
dass ych si lieb
und due se uff Instgram lobe.
Ych twittere, si sig die Gröscht
und lad se yy per WhatsApp, morn zoobe.
Ych tuenere scheen mit E-Mail,
schryyb SMS, vo Sorge, wo ych nimm ka trage,
bis ych mergg:
Sie hoggt jo nääbedraa,
ych hätt’s ere diräggt kenne sage.
D’Schnapsbagge
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