Im Helvetiagarten in Luzern stand eine der ersten Telefonzellen der Stadt. Sie stand etwa 400 Meter von unserer Wohnung entfernt. Das war 1948. Zu der Zeit war telefonieren ein teures Unterfangen. Eine Verbindung nach Genf kostete für drei Minuten, in heutigem Währungswert umgerechnet, zwölf Franken. Damit war das Telefon nichts für Kinder! Auch Lokalgespräche waren für uns Jungen nicht erlaubt. Sie kosteten für drei Minuten einen Franken. Da blieb uns nur die Kabine Helvetiagarten, am Bundesplatz.
Auf einem Quadratmeter Bodenfläche stand dort ein Häuschen mit lauter Glaswänden. Darin waren der Telefonapparat und das Tischchen mit den Telefonbüchern angebracht. Zusammen mit dem telefonierenden Bürger ward die Kabine ausgestopft voll. Beim Automaten muss man sich einen gusseiseren Kasten in der Grösse eines Backofens vorstellen. Der Telefonhörer war mit einem Metallschlauch, wie man ihn heute von der Duschebrause her kennt, verbunden. Darin befand sich, vandalensicher eingepackt das eigentliche Telefonkabel. Alles war wetterfest und robust konstruiert.
Wer telefonieren wollte, brauchte Kleingeld. Das Gerät akzeptierte nur Münz. Zehnrappen-, Zwanzigrappenstück und ein halber Franken. Für den Betrag von 30 Rappen konnte man drei Minuten telefonieren. Nachzahlen für ein längeres Gespräch war nicht möglich. Wenig geeignet für einen längeren Schwatz mit einer Freundin.
Zu der Zeit hatten nur wenige Haushalten einen eigenen Telefonanschluss. Es gab nur das, heute würde man sagen, Festnetz der PTT. Swisscom war lange nicht geboren. Ein Freund von mir der bei der NZZ arbeitete erklärte mir, wie die interne Telefonliste der wichtigsten Mitarbeiter aussah. Jene die zuhause einen eigenen Anschluss hatten waren in Rot aufgeführt. Die anderen in schwarz. Das waren die meisten. Es war dort die Nummer des Nachbarn aufgeführt. Dieser holte die gesuchte Person im Nachbarhaus an seinen Fernsprecher. Die Verbindung war hergestellt.
Die Telefonkabinen wurden gebaut, weil die Zahl der Festnetzabonnenten so gering war. Sie sollten Jedermann für Notfälle zur Verfügung stehen. Fünfzig Rappen in den Schlitz und mit Nr.14 war die Polizei da. Nr. 15 für die Feuerwehr. Nr. 12 für das Kantonsspital. Für die bürgerlichen Anschlüsse gab es sechsstellige Nummern. Die Dienstnummern waren zweistellig. Für diese Gespräche wurden keine Gebühren erhoben. Der Apparat gab beim Aufhängen des Hörers den Fünfziger zurück.
Für uns war die Nr. 16 von Interesse, die genaue Zeit. «Fünfzehn Uhr, elf Minuten und vierzig Sekunden – top.» Alle zwanzig Sekunden betete eine blecherne Stimme die Zeit herunter. Wir konnten täglich unsere Armbanduhren nachstellen. Das erst noch gratis. Besonders gefragt war die Nummer elf, die Auskunft. Sie war ein Relikt der ehemaligen, von jungen Damen bedienten Telefonzentralen. Ganz am Anfang der Telefoniererei wurde jede Verbindung von Telefonfräuleins geschaltet. Die Auskunft war das einzige menschliche Überbleibsel in diese neue automatisierte Zeit. Die Auskunft sollte helfen eine Telefonnummer zu finden. Sie gab auch über allerlei andere Fragen Bescheid. «Welches Tram fährt zum Friedhof?» «Wo gibt es ein Fotogeschäft?» oder «Wie heisst die Hauptstadt von Pakistan?» Auf alle diese Fragen gab die Auskunft eine Antwort. Wir Jungen kamen uns besonders originell vor, indem wir ausgefallene, alberne Fragen stellten. «Fräulein, ist das Zebra ein weisses Pferd mit schwarzen Streifen, oder ein schwarzes Pferd mit weissen Streifen?» Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: « Ein weisses Pferd mit schwarzen Streifen.“ Offenbar waren wir nicht die Einzigen, die mit der Auskunft Ulk betrieben.
Die Telefonzellen wurden immer mehr den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Man konnte längere Unterhaltungen führen. Nachzahlen wurde möglich. Vorausgesetzt genügend Münz befand sich in Griffnähe. Sogar ins Ausland konnte man aus der Kabine kabeln. Obschon die Gebühren immer günstiger wurden, war ein Telefonat ins Ausland immer noch eine Investition, einen Luxus. Es begab sich, dass während der Studienzeit eine der sechs Sprechzellen am Bellevue in Zürich defekt war. Defekt, und was selten vorkommt, ein Fehler der sich zu Gunsten des Benutzers auswirkte. An diesem und nur an diesem Automaten konnte man für einen halben Franken zeitlich unbegrenzt ins Ausland telefonieren. Für die vielen ausländischen Studis ein gefundenes Fressen. Diese versuchten diese preisgünstige Maschine geheim zu halten. Was natürlich nicht gelang. Nach einem halben Jahr hatte die PTT davon Wind bekommen. Der Geldsegen wurde abgebrochen.
Telefonieren wurde immer wichtiger und immer günstiger. Lokalgespräche kosteten zwar immer noch dreissig Rappen. Waren aber zeitlich nicht mehr begrenzt. Was zur Folge hatte, dass Teenager während Stunden den Telefonanschluss der Familie mit Ferngeschwätz blockierten.
In Geschäftsleben war telefonieren existenziell. Vieles was vor ein paar Dekaden noch mit der Briefpost erledigt werden musste, konnte jetzt telefonisch vereinbart werden. Bestellungen wurden per Fernsprecher aufgegeben, Angebote wurden besprochen, Termine vereinbart. Sogar Handelsverträge wurden am Apparat konzipiert. Die Entwicklung schritt voran. Zwei wichtige Neuerungen vereinfachten den Geschäftsablauf. Die Faxmaschine und das Natel.
Natel stand für «Nationales Autotelefon». Ich gehörte zu den Ersten, die ein Natel A im Auto eingebaut hatten. Für mich war das der logische Ausbau meines fahrenden Büros. Viele Kilometer legt ich wöchentlich per Auto zurück. Sehr bald gab ich es auf, selbst am Steuer zu sitzen. Fahrzeit und Parkplatzsuche wurden dem Chauffeur delegiert. Im Fonds sitzend hatte ich alles, was ich brauchte um wie im Büro arbeiten zu können. Nur ein Telefon fehlte. 1982 kam die Erlösung, das Mobiltelefon Natel A. Es bestand aus Lautsprecher mit Mikrofon, einen Bedienteil mit Tastatur und aus einer Steuereinheit. Diese Geräte waren in Griffnähe auf den Nebensitz platziert. Dazu kam noch der Funkteil, ein 15 Kilo schwerer Koffer im Gepäckraum fixiert. Weiter brauchte es noch eine spezielle Antenne auf dem Autodach und für die Stromversorgung ein Kabel zum Autoakku. Die Installation war eine teure Sache. 22’000 Franken kostete die ganze Einrichtung. Dazu kam eine Jahresanschlussgebühr von 150 Franken. Ein Anruf für drei Minuten Gesprächsdauer belief sich auf einem Fünfliber. Luxus pur werden sie sagen. Wo denken sie hin. Ununterbrochen konnte ich so von morgens bis am Abend arbeiten. Egal wo ich war. Ob im Büro oder im Auto. Es blieb beinahe nichts liegen. Ich war immer auf jedes Gespräch bestens vorbereitet. War immer pünktlich beim Kunden oder bei den Gesprächspartnern. Nie eine Ausrede, wie «keinen Parkplatz gefunden» oder «im Stau stecken geblieben.» Auf diesem Gebiet war ich ein Pionier. Und ich konnte unterwegs telefonieren. Nicht ganz. Es gab Einschränkungen. Vor allem in den Anfangsphasen.
Das Mobiltelefon war ein Funkgerät. Es war auf auswärtige Antennen, wo es sich einloggen konnte, angewiesen. Das war nicht immer möglich. Es gab nur fünf Antennen der PTT längst den Autobahnen. Die Geografie unseres Landes trug auch nichts zur Verbesserung des Empfangs bei. Tunnels, Schluchten und Funkschatten sorgten immer wieder für eine Feuerpause während des Gesprächs.
Ein Freund von mir lag im Spital. Auf meinem Heimweg wollte ich ihm gute Genesung wünschen. Als die Verbindung endlich klappte wurden wir während einer halben Stunde sechs Mal unterbrochen. Das eigentliche Gespräch hatte keine drei Minuten gedauert. Der Patient war Journalist. Für seine spitze Feder bekannt. In seiner nächsten Kolumne wurde ich mit Spot, Hohn und Häme übergossen.
Aus heutiger Sicht. Aus der Sicht des Benützers von Smartphone, von künstlicher Intelligenz, von automatischer Sprachübersetzung und vor den «laut vorlesen“ Möglichkeiten am PC, eine nicht vorstellbare Art ein Geschäft zu betreiben. Heute ist jedermann mit dem Handy in der Lage diese Funktionen im Handumdrehen auszuführen. Dieser Hochleistungscomputer 189 Gramm schwer, in jeder Tasche passend, macht uns stets und überall erreichbar. Welch riesiger Fortschritt.
Und doch, die Zeit als die ultramodernen, zylindrischen Telefonzellen die Bahnhofstrasse zierten, war für mich eine gute Zeit. Irgendwie fehlt etwas, wenn ich heute durch Zürich schlendere. Es sind die Telefonkabinen, welche durch den flächendeckenden Besitz des Handy den Tod gefunden haben.
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