Als ich noch im Erwerbsleben stand, war ich oft früh auf den Beinen. Das Erwachen des Tages mitzuerleben, war stets eine erfreuliche Episode. Ein richtiger Aufsteller. Das ist lange her. Meistens verschlafe ich heute den Tagesbeginn. Neulich allerdings war ich um vier Uhr früh wach. Einfach wach und munter. Ausgeschlafen umfing mich eine stockdunkle Nacht. Es packte mich, an diesem milden Vorsommerstag wieder einmal den Tagesanbruch zu erleben. So sass ich, noch mitten in der Nacht im Bademantel eingehüllt, auf der Terrasse. Ganz Nacht war es, um ehrlich zu sein, nicht mehr. Am Horizont entwickelte sich ein dunkles Grau. Vogelgesang kündigte das bevorstehende Auftauchen der Sonne an. Stille wechselte sich ab mit leisem Gezwitscher, das immer lauter, immer fröhlicher wurde. Am Horizont wird es schon etwas heller. Der Tag erwacht. Noch ist keine Sonne sichtbar. Venus räkelt sich noch in den Wolken. Sie kämpfen gegen das sich entwickelnde Licht. Ein besonderes Bild, dieser Zweikampf. Dunkelschwarze Wolken vor einem etwas helleren blau-grauen Hintergrund. An ihren Rändern entstehen silberne Streifen. Der goldene Hahn auf dem Kirchturm zeigt sich strahlend gelb. Unübersehbar wie ein Fixstern. Das Häuserdorf rund um den Turm nimmt bedächtig Struktur an. Die Nachbarskatze, bereits auf Mäusejagd, schleicht an mir vorbei. Der Vogelgesang verstummt. Gefahr in Sicht. Achtung Katze. Dann der erste Sonnenstrahl. Gleichzeitig entsteht am Himmel ein Gemälde von Schatten und Licht. Das Bild ist nur von kurzer Dauer, die Sonne obsiegt. Spatzen, Amsel, Meisen, Elster und Krähen rascheln im Gebüsch. Der Milan zieht majestätisch seine Kreise. So prachtvoll wie heute ist es nicht immer. Das Wetter macht, was es will. Wir werden nicht gefragt. Wir sind die Konsumenten, die dem Wettergott keinerlei Aufträge erteilen können.
Der neue Tag muss nicht immer so grossartig aufstehen wie heute. Da gibt es Tage, an denen es gar nicht richtig hell wird. Kein Sonnenstrahl weit und breit. Alles bleibt ins Grau der Dämmerung gehüllt. Fehlt nur noch der Regen. Dann kann ich in den Morgenstunden noch so wach sein, vom Aufstehen und ins Freie Gehen kann keine Rede sein. Für solche Situationen, sie sind gar nicht so selten, halte ich eine regelrechte Liste von Ausreden parat. „Ein paar Zeilen lesen wäre jetzt schön.“ „Ich habe ja Zeit.“ „Ich kann es mir leisten liegen zu bleiben.“
Nicht so heute im Bademantel auf der Terrasse.
Der neue Tag ist da. Mit ihm erwacht die Welt. Autotüren schlagen zu, Motoren heulen auf, Schüler flitzen auf ihren Rädern der Schule entgegen. Wieder einmal erleben, wie der Alltag Anlauf nimmt. Was er wohl bringt, dieser neue Tag? So früh am Morgen bin ich in der Regel noch in Morpheus‘ Armen. Höchstens nur ein Auge offen, und gar keine Motivation, den Schlaf abzubrechen. Hier auf der Terrasse aber, nach einem beeindruckenden Tagesanbruch, bin ich voller Optimismus. Dieser Tag kann nur Gutes bringen. Schlechtes Wetter ist nicht in Sicht.
Da passiert, was nie passiert. Das Telefon klingelt. Um halb sieben in der Früh. Alice ist am Apparat, die Frau meines alten Bekannten Hugo. Hugo wurde mitten in der Nacht vom Notarzt abgeholt. Er liegt jetzt in der Notfallstation. Morgen wird er operiert. Ein Tumor im Kopf. Schlimm. Das sind leidige Augenblicke, wo mir die Worte wegbleiben. Die glänzende Morgendämmerung wird von der bevorstehenden Todesnachricht eines geschätzten Kameraden abgelöst. Unbarmherzig präsentiert das Leben, was es ist. Ein Schreiten durch die Zeit, in der alles nebeneinander und ungefragt stattfindet. Angst und Freude sind zwei unterschiedliche Geschwister, die uns stets wieder begegnen. Mit sich tragen sie die Hoffnung. Hoffnung hat landläufig keinen guten Ruf. Wahrgenommen wird sie als tatenloses Warten auf ein Wunder. Das sehe ich ganz anders.
Hoffnung hat nichts mit Naivität und blindem Zukunftsvertrauen zu tun. Im Gegenteil, Hoffnung ist ein Mittel, auf die Frage „wie könnte es auch noch sein“ eine Antwort zu finden. Hoffnung ist bei mir vor allem ein Hinterfragen der ungemütlichen Lage, in der man sich gerade befindet. Hoffnung kann ein mächtiger Antrieb sein weiterzumachen, sich gegen Widerstände aufzubäumen, durchzuhalten. Egal, wie schlecht die Lage ist, man bleibt zuversichtlich. Die Hoffnung fixiert einen Punkt in der Ferne, an dem man sich orientieren, ihn ansteuern kann. Hoffnung nährt den Wunsch zu leben.
Zurück zum Sonnenaufgang. Auch wenn die Nachricht von Alice düster ist und trist, sie gibt auch Hoffnung. “Solange ich atme, hoffe ich“, sagte Alice. Und dies zurecht. Die Operation ist gelungen. Der Tumor war nicht bösartig.
Der Sonnenaufgang steht hier als Fanal, als Zeichen dafür, dass die Ergebnisse in der Regel besser sind als sie in der Vorstellung ausgedacht wurden. Die Sonne scheint immer wieder.
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